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Dienstag, 29. April 2003

Chancen und solche, die vertan wurden: 35 Jahre Mai 1968

Die meisten 68erInnen haben längst ihren Frieden mit der bürgerlichen Gesellschaft gemacht und wollen nicht mehr an den jugendlichen Übermut der 1960er erinnert werden. Und für die Jüngeren ist 1968 ein verklärter Mythos. Grund genug, die Bewegung, die mit diesem Jahr verbunden wird, zu analysieren, um daraus zu lernen.

Ein Jahr?


Das Jahr 1968 selbst wird überbewertet. Es war zwar das Jahr, in dem es in vielen Ländern zu massiven Protesten von Studierenden, Jugendlichen und auch ArbeiterInnen kam. Aber es war letztlich nur der Höhepunkt einer Welle von Jugendprotesten, die in den 1960ern den Globus erschütterte. Auch wenn sich die Charakteristika der Bewegungen von Land zu Land unterschieden, so lassen sich doch gemeinsame Merkmale erkennen. 1. standen in fast allen Staaten StudentInnen an der Spitze der Protestbewegungen. Dies gilt für imperialistische Länder ebenso wie für Halbkolonien (die sog. Dritte Welt) oder auch degenerierte ArbeiterInnenstaaten (UdSSR&Co). 2. war das Ziel ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel. 3. waren die Bewegungen eine Reaktion auf drastische Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die sich mit der neuen Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg herauskris-tallisierten und in den 1960ern ihre Auswirkungen zeitigten.

Rahmenbedingungen


In den imperialistischen Staaten hatte sich nach 1945 im Zuge der veränderten internationalen Arbeitsteilung und neuer Produktionstechnologien der Produktionsprozess drastisch verändert. Es kam zu beschleunigter Industrialisierung und damit einem Wachstum der ArbeiterInnenklasse. Während die Wirtschaft fast zwei Jahrzehnte lang boomte, hinkte das Lohnwachstum aber hinterher. Der grundlegende Widerspruch bestand darin, dass die Position der ArbeiterInnenklasse stärker wurde, da sie aufgrund der Vollbeschäftigungssituation über den Arbeitsmarkt nicht so leicht unter Druck gesetzt werden konnte, während sich der Wirtschaftszyklus seinem Ende näherte, wodurch sich der Spielraum für die UnternehmerInnen verringerte (1971 brach das internationale Währungssystem von Bretton Woods zusammen; bald darauf folgte die erste tiefe Rezession nach 1945).
Dieser wachsende Gegensatz lieferte das Pulver, welches die Klassenkämpfe in verschiedenen Staaten (v.a. Frankreich, Italien, Britannien und die USA) zum Explodieren brachte.
Doch es wäre verkürzt, den Aufschwung der ArbeiterInnen- und StudentInnenkämpfe alleine mit der Entwicklung an der ökonomischen Basis zu erklären. Denn die wirtschaftlichen Veränderungen führten auch zu bedeutenden gesellschaftlichen Umwälzungen. So benötigte das Kapital zur Aufrechterhaltung der veränderten Produktionsbedingungen besser ausgebildete Arbeitskräfte, weswegen die Universitäten für Jugendliche aus der ArbeiterInnenklasse und Frauen in einem zuvor nicht bekannten Ausmaß geöffnet wurden. Damit kamen soziale Schichten an die Unis, die andere Interessen hatten. Somit war der Grundstein für einen Aufschwung radikalerer Politik an den Unis gelegt.
Mit der zunehmenden Bildung wuchs auch die Sensibilität für Unterdrückung. Jugendliche erlebten zu dieser Zeit im Elternhaus oder an den Unis große Einschränkungen ihrer Freiheit. An den meisten Unis gab es z.B. noch getrenntgeschlechtliche StudentInnenheime und Besuche durch Angehörige des jeweils anderen Geschlechts waren verboten. Gerade der Drang nach mehr und neuen Freiheiten, sowohl im politischen als auch privaten Bereich, wurde so zum Zunder der Revolte.
Aber auch die traditionellen Formen und Inhalte des Unterrichts, die Einschränkungen der politischen Betätigungsfreiheit an Unis und Schulen sowie reaktionäre Lehrende waren immer wieder Auslöser.

Internationale Lage


Eine Triebfeder der Proteste waren auch internationale Vorbilder, die als Symbole der Möglichkeit des Kampfes gegen Unterdrückung und Ausbeutung erschienen, wie etwa das vietnamesische Volk, das seinen Kampf gegen die Unterdrückung durch den US-Imperialismus vor den Augen der Welt focht, oder die kubanische Revolution.
Die 1960er waren aber auch das Zeitalter der Verbreitung des Fernsehens. Damit wurde es möglich, die Befreiungskämpfe in anderen Ländern quasi live mitzuverfolgen. Viele Studierende in den imperialistischen Zentren solidarisierten sich mit den Kämpfen gegen die Unterdrückung z.B. in Persien, Südafrika und Lateinamerika. Deutlich wird dies daran, dass das weltweit häufigste Thema von Demonstrationen in den 1960ern Vietnam war. Diese aktive Solidarität mit Unterdrückten und Ausgebeuteten überall auf der Welt zeigt, dass der Großteil der Studierenden ein radikales, subjektiv revolutionäres Bewusstsein hatte.
Zwei Länder zeichneten sich vor allen anderen durch überaus militante Kämpfe der Massenbewegungen aus. In beiden begannen die Proteste bereits in den frühen 1960ern. Zum einen handelt es sich dabei um Südkorea, wo Studierende, Jugendliche und militante ArbeiterInnen den Sturz des verhassten Präsidenten Syngman Rhee herbei führten, zum anderen um Japan, wo bereits 1960 Studierende den Besuch von US-Präsident Eisenhower verhinderten. Dieser sollte in Japan die Verlängerung des “Sicherheitsvertrages” unterzeichnen, der den imperialistischen US-Truppen ihre Präsenz in Japan gestattet. Da große Teile der ArbeiterInnenklasse ebenfalls gegen dessen Verlängerung waren, kam es zu einer Solidarisierungswelle mit den Studierenden, was schließlich mit dem Sturz des Ministerpräsidenten endete. Weiters kam es später zu monatelangen Besetzungen von Universitätsgebäuden. Teilweise wurden ganze Straßenzüge in Tokyo von Studierenden besetzt. Gemeinsam mit armen Bauern und Bäuerinnen besetzten diese auch einen US-Militärflughafen und verhinderten dadurch über Jahre die Eröffnung des neu erbauten Tokyoter Flughafens Narita. Immer wieder kam es zu richtiggehenden Straßenschlachten mit der Polizei. Die japanische StudentInnenbewegung war wohl die militanteste von allen.
Der Pariser Mai hat noch heute für viele einen gewissen Zauberklang, denn was an den Massenprotesten in Frankreich herausragt, ist die aktive gegenseitige Solidarisierung von Studierenden und ArbeiterInnen. Auch wenn ihre Ziele sehr unterschiedlich waren, hat es ihn doch gegeben, den gemeinsamen Kampf gegen die Maßnahmen des Regimes de Gaulle in beiden Bereichen. Der Generalstreik der französischen ArbeiterInnenklasse im Mai 1968, die Straßenschlachten der Studierenden mit der Polizei im Quartier Latin – sie gemeinsam haben zu Veränderungen im politischen und gesellschaftlichen System der 5. Republik geführt, die niemand erwartet hatte. Wenn es auch noch einige Jahre dauern sollte, so war 1968 in Frankreich doch der Anfang vom Ende des bonapartistischen Regimes der 5. Republik, aber auch der Beginn des Niedergangs der Kommunistischen Partei (PCF), die den Kampf der ArbeiterInnen und der StudentInnen in einem Kuhhandel mit der Regierung verraten hatte.
Im Prager Frühling, der einen “Sozialismus mit menschlichem Angesicht” verwirklichen wollte, standen ArbeiterInnen und StudentInnen Seite an Seite im Kampf gegen das stalinistische System. Viele Studierende in anderen Ländern und Kontinenten erkannten durch ihn: Es gibt eine Alternative zum Stalinismus – eine Alternative, für die es sich zu kämpfen lohnt!
Der Mai 1968 war letztlich politischer Ausdruck und Startsignal einer neuen Periode – geprägt von schärferen Klassenkämpfen und zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung.

Was sagt uns 1968 heute?


Die 1968er-Bewegung erreichte kurzfristig wenig. Viele AktivistInnen tauchten ins Privatleben ab. Andere passten sich an und erlagen dem, aufgrund der fehlenden politischen Perspektive und der gescheiterten Verschmelzung mit der ArbeiterInnenklasse, verstärkten kleinbürgerlichen Druck. Der Rest suchte nach neuen politischen Betätigungsfeldern abseits der ArbeiterInnenbewegung und fand sie in den seit den frühen 1970ern entstehenden neuen sozialen Bewegungen, etwa der feministischen (dritten) Frauenbewegung, der Friedensbewegung, der Ökologiebewegung oder der Anti-AKW-Bewegung. Sie alle sehen diese Probleme, als hätten sie keine Klassengesellschaft zur Grundlage. Ihnen zufolge wäre es möglich, diese mit Reformen innerhalb der herrschenden Gesellschaft zu überwinden, falls nur ausreichend politischer Druck erzeugt wird. Dieses kleinbürgerliche Politikverständnis ist einerseits Folge mangelnder politischer Orientierung, andererseits Ergebnis fehlender Ausrichtung auf die ArbeiterInnenklasse und damit zur Niederlage verdammt.
Gerade in den Ländern, wo eine breitere Solidarisierung von ArbeiterInnen und StudentInnen stattfand, boten sich Ansatzpunkte für revolutionäre Politik. Es gab aber zu dieser Zeit keine revolutionäre ArbeiterInnenpartei, die imstande gewesen wäre, diese historische Chance zu nutzen. Auch wenn es selbst in Frankreich 1968 keine vollständig entwickelte revolutionäre Situation gegeben hat, so gab es doch bedeutende Elemente einer solchen. Genau so schnell wie diese entstanden, verschwanden sie allerdings auch wieder. So entstand etwa durch den Generalstreik im Mai des Jahres in zahlreichen Fabriken eine Doppelmachtsituation, begleitet durch Ansätze von ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion. Diese stellte die Macht der Chefinnen in bestimmten Gegenden in Frage! Es stellte sich die Frage: Welche Klasse herrscht? ArbeiterInnen oder KapitalistInnen?
Die Chance wurde vergeben, da AktivistInnen und Führung der Bewegungen keine richtige politische Orientierung hatten und durch die reformistischen Parteien verraten wurden.
Neue Krisen wie 1968 kommen wie das Amen im Gebet, da sie in der Natur des Kapitalismus selbst liegen. In den letzten Jahren sahen wir weltweit, z.B. in Argentinien, bereits wieder mächtige Klassenkämpfe. Die bevorstehenden scharfen Angriffe der herrschenden Klasse auf die Unterdrückten und Ausgebeuteten – wie etwa die geplante Pensionsgegenreform heute in Österreich, die politische und ideologische Krise des Kapitalismus sowie die Lehren vergangener Kämpfe – schaffen heute bessere Voraussetzungen für die Entwicklung revolutionärer Situationen. Doch heute müssen wir darauf besser vorbereitet sein als 1968! Wir brauchen ein revolutionäres Programm und eine revolutionäre Partei, um die nächste solche Chance nicht wieder ungenutzt verstreichen zu lassen. Beides müssen wir jetzt bereits schaffen!

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