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Freitag, 3. April 2020

Plan und Markt – ein Widerspruch?

Vor einigen Wochen haben wir uns auf dem ersten Seminar von uns SozialdemokratInnen und GewerkschafterInnen gegen Notstandspolitik mit Alternativen zu den herrschenden Eigentumsverhältnissen bzw. der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel auseinandergesetzt. Dabei habe ich mich mit der sog. Planwirtschaft auseinandergesetzt. Hier nun der leicht aktualisierte Text meines Inputs.

Geschichte


Wenn wir von Planwirtschaft sprechen, werden die meisten sofort an die Sowjetunion, China oder auch Kuba denken. Das ist nicht falsch, aber gleichzeitig nur die eine Seite der Medaille.

Die frühesten Versuche einer zentralen Steuerung (Planung) der Wirtschaft in Europa finden sich im Merkantilismus, einer Wirtschaftstheorie, die im 16. Jahrhundert entstand. Das Ziel einer darauf basierenden Wirtschaftspolitik lag in der größtmöglichen Förderung der Produktivkräfte im Inland, wozu es aktive Eingriffe des Staates (z.B. durch Exportförderungen und Importzölle) gab.

Selbstverständlich war eine solche Politik leichter, wo die Wirtschaft aufgrund der Besitzverhältnisse enorm zentralisiert war. Die extremste Ausprägung fand der Merkantilismus dementsprechend im absolutistischen Frankreich, wo wir sehen können, dass die Entwicklung kapitalistischer Strukturen die Folge dieser Politik war. Zwar wäre es übertrieben, eine frühe Form von Planwirtschaft als DIE Wurzel des Kapitalismus zu sehen. Allerdings können wir guten Gewissens davon ausgehen, dass zentrale Eingriffe des Staates in das Wirtschaftsleben einen Beitrag zur Entstehung des Kapitalismus geleistet haben.

Ein Element des Merkantilismus war die Stärkung einer zentralen staatlichen Verwaltung, die im Gegensatz zu den Illusionen der TheoretikerInnen eines vollkommen freien Markt bis heute in das Wirtschaftsgeschehen eingreift. Die spezielle Form der Rechnungsführung dieses Kameralismus genannten Systems hat in Österreich in der Verwaltung bis heute überlebt.

Im Verlauf der Geschichte ist es immer wieder zu stärkeren planerischen Eingriffen des Staates in die Wirtschaft gekommen. Insbesondere gilt das für Zeiten der Kriegswirtschaft. Wenn wir von der frühen Sowjetunion absehen, hat die Planwirtschaft im Faschismus ihren frühen Höhepunkt gefunden. Nirgendwo zuvor war die zentrale Planung der Wirtschaft so ausgefeilt wie im Nazi-Deutschland. Nach dem zweiten Weltkrieg gab es Zeiten, in denen wohl mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Volkswirtschaften lebte, in welchen der Plan den Markt abgelöst hat – insbes. in zahlreichen ehemaligen Kolonien, was ihnen wenigstens einen gewissen Aufholprozess gegenüber den hochentwickelten Volkswirtschaften ermöglichte.

Noch heute dominiert der Plan den Markt in so unterschiedlichen Staaten wie Nordkorea, Vietnam oder Indien. In China hingegen sind die zentralen Bereiche der Wirtschaft längst wieder nach Marktkriterien organisiert.

Trotzdem ist es nicht falsch, wenn wir sagen, dass es noch nie so viele Planwirtschaft gegeben hat, wie heute. Tatsächlich muss jeder große Konzern, jeder Multi jede etwas größere Firma viel genauer und längerfristig planen als das in der Sowjetunion oder ihren Satellitenstaaten jemals möglich war. Erst die moderne Informations- und Kommunikationstechnologie haben die Voraussetzungen dafür geschaffen. Das große Problem dieser Form von Planwirtschaft ist allerdings, dass sie der Verschärfung der Konkurrenz und der Steigerung von Profit für ganz Wenige statt dem Wohl der Menschen dient.

Fehler der Vergangenheit


Im Gegensatz zu den weitverbreiteten Geschichtslügen haben Marx und Engels zwar einige wenige Ideen gehabt, wie eine nachkapitalistische Wirtschaft funktionieren könnte, allerdings kein Konzept, geschweige denn eine ausgefeilte Theorie dafür gehabt.

Als die ArbeiterInnen und armen BäuerInnen im Oktober 1917 den Zarismus stürzten und die großen Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum verwandelten, mussten sie also mit dem wenigen arbeiten, was ihnen an Aussagen aus der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung zur Verfügung stand.

Klar war, dass Konkurrenz zu wirtschaftlicher Anarchie führt. Wir erleben das gerade heute in einer extremen Form, da wir jeden Tag hören, wer nicht alles an Medikamenten oder einer Impfung gegen COVID-19 forscht. Für jeden denkenden Menschen ist offensichtlich, dass eine Bündelung aller Ressourcen und des gesamten Wissens der Forschergemeinschaft wahrscheinlich eher zu Erfolgen führen wird, als die Konkurrenz, die einzig dazu dient, demjenigen Unternehmen, welches das Ziel als erstes erreicht, enorme Profite zu ermöglichen.

Hier kommen wir zum zweiten wesentlichen Element. Klar war ebenfalls, dass die Wirtschaft nicht auf Profit ausgerichtet sein darf, sondern im Sinne der Bedürfnisse der Menschen funktionieren muss.

Schließlich war ebenfalls offensichtlich, dass eine nachkapitalistische Wirtschaft nur international funktionieren kann. Selbst vor über hundert Jahren war die Weltwirtschaft schon zu sehr vernetzt als dass etwas anderes auch nur denkbar gewesen wäre.

Das waren die Ausgangspunkte entlang derer die erstmals nicht in einer Autokratie lebenden Massen Russlands ihr Aufbauprojekt begannen. Folglich gab es nur einen möglichen Weg. Den Profit als einziges Ziel der Wirtschaft ebenso wie die Konkurrenz auf dem Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen, war nur mit einer Planwirtschaft möglich. Allerdings gab es keinen Plan, wie eine solche Planwirtschaft funktionieren kann.

Die ersten Versuche waren nichtsdestotrotz erfolgversprechend. Die arbeitenden Menschen selbst übernahmen die Leitung der Unternehmen, in denen sie arbeiten, wählten die jederzeit abwählbare und finanziell weitgehend gleichgestellte Unternehmensleitung sowie Delegierte für die nächsthöhere Ebene aus ihrer Mitte. So entstand eine höchst komplexe Struktur von Räten und Delegierten, die schließlich in einem nationalen Rat gipfelte, welcher nicht nur die Wirtschaft steuerte, sondern auch die politischen Entscheidungen fällte.

Im nächsten Schritt galt es, die Bedürfnisse der Menschen mit den Möglichkeiten der Produktion in Einklang zu bringen. Dazu wurden Komitees von – heute würden wir sagen – VerbraucherInnen nach dem gleichen Strukturmuster gebildet, deren Aufgabe es war, vom kleinsten Dorf bis hin zur nationalen Ebene zu erheben, was die Menschen brauchen und sich mit der Produktion abzustimmen. Hierbei ergaben sich enorme Schwierigkeiten, da eben nicht die gesamte Wirtschaft vergesellschaftet war, sondern insbes. in der Landwirtschaft und im Gewerbe nach wir vor der freie Markt dominierte.

Die Kommunikation zwischen diesen Strukturen war aus heutiger Perspektive betrachtet enorm schwierig. Ein Brief aus Wladiwostok nach Moskau brauchte im Regelfall 14 Tage. Heute würde ein E-Mail gleichen Inhalts in 14 Sekunden ankommen.

Der Todesstoß für diese Versuche kam schließlich mit der Intervention von 21 ausländischen Armeen in der jungen Sowjetunion, welche dieser einen Bürgerkrieg und folglich eine Kriegswirtschaft aufzwang. In der Folge wurden die rätedemokratischen Elemente Zug um Zug verringert, eine neue Bürokratie entstand und statt der demokratischen Leitung der Wirtschaft wurde die Kopie eines bürgerlichen Staates ins Leben gerufen, in welchem ein eigenes Ministerium für Planwirtschaft namens Gosplan die demokratischen Planwirtschaft in eine bürokratische-zentralisierte mit den alten Privilegien für Angehörige der Bürokratie verwandelte.

Für eine Wirtschaft für die Menschen


Trotz aller Bemühungen ist die Sowjetunion also ziemlich schnell daran gescheitert, eine Volkswirtschaft zu schaffen, die im Sinne der Menschen agiert. Alle realsozialistischen Planwirtschaften danach wurden nach dem Modell der Sowjetunion geschaffen und waren folglich von Anfang an zum Scheitern verurteilt, wie die Jahre 1989ff bewiesen.

Jedes Scheitern aber bietet auch Chancen. Insbesondere für uns Spätgeborene. Wir können daraus lernen. Viele der Lehren aus dem Scheitern des realsozialistischen Modells der Planwirtschaft hat bereits Jewgeni Preobrazenskij, ein wichtiger Theoretiker der linken Opposition gegen Stalin, gezogen, was er schließlich im Rahmen der Moskauer Schauprozesse mit dem Leben bezahlte.

Die Analyse von Preobrazenskij hat in weiten Teilen bis heute Gültigkeit. Ihre zentralen Elemente sind:
  1. Der Markt kann zwar nicht mit einem bürokratischen Federstrich oder einem revolutionären Akt vollkommen ausgeschaltet werden, allerdings muss dieser Schritt für Schritt zurückgedrängt werden bis er in den Geschichtsbüchern verschwindet.
  2. Alle Produktionsmittel müssen mit der Zeit vergesellschaftet und von den arbeitenden Menschen selbst demokratisch geleitet werden.
  3. Nur auf dieser Basis ist es möglich, das Profitkriterium und die Konkurrenz aus der Wirtschaft zu verbannen.
  4. Eine funktionierende Planwirtschaft muss international sein, da nicht jedes Land alle Rohstoffe hat und nicht jedes Gebiet alles herstellen kann. Die Idee vom „Sozialismus in einem Land“ ist eine reaktionäre Utopie, die in der Niederlage enden muss.
  5. Eine Planwirtschaft im Sinne der Menschen kann nicht von oben gesteuert werde. Die wesentlichen Entscheidungen müssen demokratisch und gemeinsam von ArbeiterInnen und KonsumentInnen bzw. LeistungsnutzerInnen getroffen werden. Schließlich sind die ArbeiterInnen der einen Fabrik die KonsumentInnen der Produkte vieler anderer Betriebe und die NutzerInnen der Leistungen dessen, was heute Daseinsvorsorge (Bildung, Kultur, Verkehr, Soziales, Gesundheit, Sport, …) heißt.
  6. Eine Planwirtschaft funktioniert nur mit möglichst weitgehender Gleichheit: Schritt für Schritt müssen alle Lohnungleichheiten abgeschafft werden. Leitende Funktionen werden von den ArbeiterInnen auf der jeweiligen Ebene direkt gewählt, ebenso wie die Delegierten auf der nächsthöheren Ebene (z.B. die Delegierten einer Fabrik in den Rat der jeweiligen Stadt, deren Delegierte in den Rat des Bezirkes usw.). Alle FunktionärInnen und Delegierten sind rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar.
Entlang dieser Kriterien könnte eine Wirtschaft geschaffen werden, die tatsächlich imstande ist, die Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen und die Klimakatastrophe zu verhindern. Unsere Welt ist dafür allemal reich genug. Dieser Reichtum ist nur vollkommen falsch verteilt. Gleichzeitig geben uns Computer, hochkomplexe Algorithmen und andere Softwares, die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien heute im Gegensatz zu damals nicht nur die Möglichkeit, die erforderlichen Daten gut aufbereitet zu aggregieren und innerhalb von Sekunden weltweit zur Verfügung zu stellen, sondern sie ermöglichen auch die umfassende Information aller mit dem Wissen, welches die Voraussetzung einer echten Demokratie sind.

Tatsächlich ist es also so, dass der angeblich freie Markt ohne die Perfektionierung der Planwirtschaft längst nicht mehr funktionieren würde. In Anbetracht der COVID-19-Pandemie würde dieser ohne staatliche Eingriffe mit zahlreichen planwirtschaftlichen Elementen komplett versagen. Umgekehrt gilt das allerdings nicht. Langfristig werden selbst kleinste Elemente einer Marktwirtschaft den Plan unterminieren, wie z.B. China beweist. Die zahlreichen Elemente einer Planwirtschaft, welche innerhalb des Kapitalismus existieren, machen es heute deutlich leichter, eine Planwirtschaft unter der demokratischen Kontrolle der Beschäftigten und LeistungsnutzerInnen im Sinne aller Menschen – und ohne die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen – aufzubauen.

Literatur: Preobrazenskij, Jewgeni Alexejewitsch (1971): Die neue Ökonomik. Berlin.

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