Schade, dass es heute im Gegensatz zu
vor einigen Jahrzehnten kaum mehr eine Auseinandersetzung mit der
Frage gibt, wie sich die Klassenzugehörigkeit im Kapitalismus auf
die Gesundheit, aber auch die Entwicklungen unsere Psyche auswirkt,
da uns allen der Klassenbegriff als Basis für das Verständnis der
Gesellschaft vom sog. Neoliberalismus ausgetrieben wurde. Insofern
hat dieses Buch seine Stärken darin, diesen Versuch wenigstens zu
wagen.
Der Inhalt wird dem überaus spannenden
Titel des etwas älteren Buches leider nicht gerecht. Einerseits
arbeitet der Autor mit einem ziemlich veralteten Begriff der
Arbeiter*innenklasse, der schon damals nicht mehr zeitgemäß war. Er
definiert Arbeiter*in im wesentlichen als Fabriksarbeiter*in und
konstruiert einen künstlichen Widerspruch zu den Interessen der
Angestellten in Fabriken. Andere Teile der Arbeiter*innenklasse, die
es auch damals schon massenhaft gab (Handel, beginnende
Professionalisierung des Sozial- und Gesundheitsbereiches,
Verwaltung) kommen kaum vor, obwohl es gerade in der Zeit der
Entstehung dieses Buches bedeutende wissenschaftliche Diskussionen
über die Veränderung der Arbeiter*innenklasse im Zuge der
Umgestaltung des Produktionsprozesses mit der fortschreitenden
Automatisierung gab.
Dem oberflächlichen Verständnis des
Klassenbegriffes gesellt sich eine plattes Verständnis der
menschlichen Psyche bzw. ihrer Erkrankungen hinzu, welches des
öfteren mit Freud begründet wird. Die Psyche von Angehörigen der
Arbeiter*innen wird im wesentlichen als von den Erfordernissen der
Fabrik geprägt, als schizogen dargestellt. Dieser Begriff war und
ist bis heute nicht üblich, verweist aber jedenfalls auf
Krankheitsbilder aus dem schizoiden bzw. schizphrenen
Krankheitsspektrum. Mag sein, dass diese Klassifizierung der damals
erst in den Kinderschuhen steckenden Sozialpsychologie bzw.
-psychiatrie geschuldet ist, die die Psyche einzig als
gesellschaftliches Produkt definierte, eine Sichtweise, die
spätestens mit dem biopsychosozialen Gesundheitsmodell, welches Ende
der 1980er zum auch von der WHO akzeptieren Ansatz wurde, der bis
heute allerdings mit Ausnahme vielleicht von Kuba nirgends auf der
Welt umgesetzt ist, überholt war.
Manch andere Begriffe erscheinen heute
ebenfalls nicht mehr zeitgemäß, werden in den folgenden Zitaten
allerdings trotzdem kommentarlos wiedergegeben, um die immerhin ein
halbes Jahrhundert alte Denkweise, auf welcher dieses Buch basiert,
verstehen zu können.
Die Vielfalt der
Unterdrückungsmechanismen, welche uns im Rahmen der
Sozialisationsprozesse im Kapitalismus begegnen, geht dabei ebenso
verloren, wie die Unterschiedlichkeit ihrer Auswirkungen auf unser
emotionales Erleben und damit unsere Psyche. Gerade erst im Rahmen
der COVID-19-Pandemie ist klar geworden, dass es oft die Vereinzelung
und Individualisierung (Stichwort: Home Office) sind, welche massive
Auswirkungen auf unsere psychische Gesundheit haben. Krankheitsbilder
wie Depressionen oder Angststörungen haben ebenso wie
Suchterkrankungen, die auch Vinnai bereits erwähnt, massiv
zugenommen. Hier soll nicht bestritten werden, dass bei deren
Entwicklung psychischer Erkrankungen auch unsere Sozialisation eine
Rolle spielt. Allerdings ist deren Auftreten und ihre Ausprägung
nicht selten von konkreten Auslösern abhängig, die oftmals lange
nach der Adoleszenz eintreten. Wir sind im Gegensatz zu den Annahmen
des Autors also nicht bereits mit dem Abschluss der Sozialisation für
immer und ewig geprägt, sondern können uns verändern, solange wir
leben. Das gilt auch für unsere Psyche und deren Erkrankungen.
Neben einer Reihe von spannenden
Literaturverweisen, welche zeigen, wie früh und vielfältig das
Thema bereits von Marx bis Adorno behandelt wurde, ist das Buch
trotzdem wegen seiner Analyse des Klassenbewusstseins lesenswert. Auf
Seite 148 z.B. erlaubt uns der Autor einen Einblick, in die heute
wieder von vielen gestellte Frage, warum sich die Klasse selbst nicht
als solche wahrnimmt:
„Die Angst des isolierten Opfers
übermächtiger Verhältnisse, die Wehrlosigkeit des Einzelnen
gegenüber der etablierten Herrschaft, zwingt den Arbeiter partiell,
das Opfer des Bewußtseins zu bringen, wenn er psychisch überleben
will. Der Arbeiter ist nicht einfach zu wenig aufgeklärt, um seine
soziale Situation zu durchschauen (die er übrigens wesentlich besser
kennt, als viele Intellektuelle glauben), sondern zu wehrlos, um sich
das Begreifen seiner Lage dauerhaft psychisch leisten zu
können. […] Die Geschichte der Klassenkämpfe zeigt, daß die
Arbeiterklasse mit der Erfahrung ihrer Macht und dem damit
verbundenen Abbau von Angst, intellektuelle Interessen freisetzten
kann, die es ihr erlauben, Lernprozesse sprunghaft durchzumachen,
denen sie als passives Objekt der Verhältnisse massiven Widerstand
entgegensetzt. Das kollektive Bedürfnis nach Aufklärung kann erst
entstehen, wenn sich mit dieser die realistische Hoffnung verknüpfen
läßt, daß sie den Kampf um eine wesentliche Veränderung der
materiellen Verhältnisse erleichtern kann.“
Der Autor kommt daher zur
Schlussfolgerung, dass das politische Handeln kollektive und
individuelle Bedürfnisse befriedigen muss. Die Befriedigung der
letzteren ist die Voraussetzung, um die Kraft aufzubringen, welche
der Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung erfordert, und zeigt
gleichzeitig auf, was eine künftige Gesellschaft leisten könnte,
indem sie dem Individuum gibt, was diesem vom Kapitalismus
vorenthalten wird.
Dadurch kann auch die Angst, welche uns
daran hindert, uns den herrschenden Verhältnissen entgegenzustellen,
zumindest in den Griff bekommen werden. Denn es ist „eine
tiefsitzende Angst, die dem solidarischen Kampf im Wege steht“,
diese „ist der wesentliche subjektive Hemmschuh der Entfaltung
einer politischen Identität des Arbeiters. Die Angst zwingt den
Arbeiter, sich der Herrschaft zu assimilieren und das Opfer des
Bewußtseins zu bringen. […] Die soziale Situation des Arbeiters
produziert eine Potential der Unterwerfung und ein Potential der
Befreiung, die miteinander verquickt sind. Die Sozialisation des
Arbeiters in Familien, Schule und Betrieb zerstört seine Ideendiät
und schafft zugleich rudimentär eine andere Identität, sie sich im
Emanzipationskampf der Klasse entfalten kann. Die Widersprüche in
der gesellschaftlichen Lage und im Sozialcharakter des Proletariats
sind nur durch offenes organisiertes Handeln der Massen aufzuheben.
[…] Ihre Stellung im System der kapitalistischen Produktion erlaubt
den Arbeitern nicht Interessen wie Bürger [im Sinn von Kapitalist*in
– Anm. des Autors] individualistisch konsequent zu verfolgen. Der
kooperative Charakter der industriellen Produktion, ihre gemeinsame
Interessenlage gegenüber dem Kapital drängt die Arbeiter zur
Kollektivität.“ (149f) Das gilt wohl für jede Form kollektiver
Arbeit, weswegen das Kapital uns gerne einredet, dass es nichts
Schöneres gibt als das Dasein als Ich-AG, EPU, wie auch immer die
Spaltung der Klasse in Individuen gerade genant wird.
Genau hier erkennen wir einen der
Grundfehler reformistischer Parteien, der dazu führt, dass sich die
Angehörigen der Arbeiter*innenklasse nicht mehr von diesen vertreten
fühlen. Der von vielen heute noch als positiven Ansatz von Kreisky
hervorgehobene „Aufstieg“ ist es, der uns Arbeitenden vermittelt,
dass wir uns individuell über andere erheben sollen, statt ein gutes
Leben für alle zu erkämpfen.
Dem Wesen der Arbeiter*innenklasse ist
ein solcher individualistischer Zugang fremd, weswegen eine Politik,
die auf individuelle Verbesserungen der Lebenssituation abzielt,
diese auch nicht als Klasse erreichen kann und diese vielmehr in
egoistische Individuen spaltet, die sich dem Kapital auf Kosten ihrer
Klassenbrüder- und -schwestern andienen.
Folglich braucht es eine Organisation,
die uns arbeitenden Menschen die Möglichkeit gibt, selbstbestimmt
und demokratisch kollektiv für unsere Interessen einzutreten. Genau
diese Organisation gibt es derzeit nicht, da weder die bürgerlichen
Arbeiter*innenparteien noch die Gewerkschaften ein Interesse daran
haben, dass wir selbst systematisch und massenhaft politisch agieren,
sondern uns das Märchen erzählen, dass sie – die da oben in der
Partei – es für uns richten können.
Historisch gesehen waren es allerdings
immer Massen, die echte gesellschaftliche Veränderungen
herbeigeführt haben. Erst mit der Aufhebung der Kluft zwischen Basis
und Führung kann wieder eine neue proletarische Kollektivität
entstehen, wie sie z.B. mit den alle Lebensbereichen umfassenden
Arbeiter*innenorganisationen der Zwischenkriegszeit in Österreich
angestrebt wurde. Jede Form von Klassenkampf, insbes. der
Arbeitskampf, ist immer auch eine Kampf darum, die
Individualisierung, die Atomisierung, die Spaltung durch das Kapital
aufzuheben und zu einem echten Kollektiv zu werden.
Der letzte Absatz des Buches auf Seite
155 zeigt einerseits das daraus entstehende Elend der aktuell
bestehenden Organisationen der Arbeiter*innenklasse als auch den
Ausweg aus diesem auf, weswegen ich diesen an den Schluss dieser
Rezension stelle.
„Einer Arbeiterklasse ohne
kämpferische Organisation bleibt als Widerstandsform gegen eine
feindliche soziale Realität nur die Gleichgültigkeit, die Apathie,
als ohnmächtige, blinde Weigerung die 'offizielle' Betriebsamkeit zu
akzeptieren, sich von politischen Organisationen verplanen zu lassen,
die ihre Interessen nicht vertreten. Die isolierten Einzelnen können
sich nur in einer falschen Art und Weise gegen das Bestehende wehren,
die sie immer weiter in dessen Misere verstrickt. Die Anpassung an
kapitalistische Verhältnisse verlangt vom Arbeiter den Verzicht auf
eine Identität, in der seine aufgeklärten Interessen und
Bedürfnisse aufgehoben sind. Eine Identität, die vom Drang
aufgeladen wird, mehr als das Objekt übermächtiger Verhältnisse zu
sein, erlangt der Arbeiter einzig als politisches Individuum. Nur im
kollektiven Kampf um eine veränderte Form der Produktion, um ein
verändertes Gattungsleben, entfaltet sich die Subjektivität des
Arbeiters. Das Kapital verdammt den Arbeiter zu einer verkrüppelten,
dumpfen, bewußtlosen Daseinswiese, zu einer tierischen Existenz –
er wird zum Menschen durch sein organisiertes Nein.“
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