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Sonntag, 11. Dezember 2022

Immanuel Wallerstein (2012): „Der Siegeszug des Liberalismus (1789-1914)“ - eine Rezension

Waren schon die ersten drei Bände des modernen Weltsystems von Wallerstein voller Wissen und Einsichten in die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus, so toppte er diese mit dem vierten Band nochmals deutlich. Erst der weltweite Siegeszug des Kapitals unter dem Vorzeichen des aus der französischen Revolution entstandenen Liberalismus im Zeitalter des Imperialismus führte zu der Welt, wie wir sie heute kennen.

Viele der Aspekte, die unsere Welt heute ausmachen, wurden erst in dieser Phase der Weltgeschichteso ausgestaltet, wie wir sie kennen: Staat, Nation, Sexismus, Rassismus und Nationalstaat wurden in ihrer vorherrschenden Form erst als Folge der bürgerlichen Revolution etabliert. Bürgerliche Staaten im modernen Sinne des Wortes, also Nationalstaaten mit einem relativ einheitlichen Volk, einer einheitlichen Sprache und Verwaltung gab es zuvor praktisch nicht. Ebensowenig wie Nationen im modernen Sinn des Wortes. Erst mit dem Nationalstaat wurde die Herrschaft des Adels über ein oder mehrere Völker von Staaten abgelöst, in denen die Herrschaft von einem nationalen Volk zunehmend über Wahlen legitimiert wurde. Beides war in Österreich erst 1918 der Fall.

Wahlen gab es bereits zuvor. Allerdings nicht für alle. Meistens nur für die Besitzenden, wobei die konkrete Ausgestaltung des Wahlrechts sehr unterschiedlich war. Mal hing sie vom Grundbesitz ab, mal vom ausgeübten Gewerbe, mal von einem bestimmten Vermögen (Zensuswahlrecht) oder auch von einer Kombination dieser Faktoren. Das Geschlecht spielte in den meisten Ländern dabei allerdings keine Rolle. Auch besitzende Frauen durften wählen. Erst der Einschluss des Volkes in einen Nationalstaat, in das Gefängnis der Nation, führte zum grundsätzlichen Ausschluss von Frauen vom Wahlrecht. Selbstverständlich war von ihnen auch zuvor eine noch kleinere Minderheit als unter Männern wahlberechtigt.

Gleiches gilt übrigens für Männer anderer Hautfarbe. Erst mit der zunehmenden Ausweitung des Wahlrechtes auf alle Männer der Nation, wurden people of colour in England, Frankreich und besonders den USA vollkommen vom Wahlrecht ausgeschlossen, was auch zu einem langandauernden Konflikt führte, ob der Kampf um das Wahlrecht für Frauen nicht zurückstehen müsse, solange es kein Wahlrecht für alle Männer (also auch Farbige) gibt. Hier kam die republikanische Partei in den USA, die ein solches forderte, in einen massiven Konflikt mit der ihr nahestenden bürgerlichen Frauenbewegung, welche die umgekehrte Forderung erhob – auch mit rassistischen Argumenten, die wir heute in Bezug auf die politische Mitbestimmung von Menschen mit Migrationshintergrund immer wieder hören.

Und hier stoßen wir auf den Grund für den Titel des Buches. Es war der Liberalismus, z.B. in Gestalt der Demokratischen Partei in den USA, welcher mit dem Argument der fehlenden Bildung, Unwissenheit, letztlich des Arguments, dass nur weiße Männer echte Menschen sind, denen das Wahlrecht zustehen soll, gegen das Wahlrecht für Frauen und people of colour ankämpfte. Erst mit der Entstehung des bürgerlich-liberalen Nationalstaates, der uns heute gerne als einzig mögliche Staatsform verkauft wird, wurden alle von der Mitbestimmung ausgeschlossen, die nicht weiß und männlich waren. Die Geschichte wird weisen, ob diese Staatsform wirklich die bestmögliche ist. Beim „Ende der Geschichte“ haben sich schon viele die Finger verbrannt, auch wenn nur ein Apologet der bürgerlichen Herrschaft so dumm war, auch ein Buch so zu benennen. Dass letztlich nicht die Wähler*innen bestimmen, wie unsere Welt aussehen soll, sondern Großspender*innen und Lobbyist*innen wurde im Zuge des Korruptionsskandals um FPÖ und ÖVP jedenfalls mehr als deutlich. Das darf uns nicht weiter verwundern, verweist doch der Begriff bürgerliche Politik klar darauf, in wessen Sinn sie Politik machen: Für die Bourgeoisie, also das Kapital.

Erst das, was heute als Liberalismus bezeichnet wird, hat also in der Zeit der endgültigen Durchsetzung des Kapitalismus den Ausschluss von Frauen und Farbigen von politischen Rechten durchgesetzt, was deren bereits bestehende massive Benachteiligung weiter verschärfte. Wir sehen, dass es der Kapitalismus ist, der die Spaltung der Ausgebeuteten und Unterdrückten entlang von Geschlecht und Nation braucht, um unseren Kampf für eine menschenwürdige Welt für alle, eine Welt, die nicht dem Profitkriterium unterworfen, sondern für die Menschen da ist, zu behindern. Unsere Antwort darauf kann nur Solidarität lauten. Diese hat keine Grenzen und kennt keine Grenzen. Weder zwischen Geschlechtern noch zwischen Nationen.

Schade, dass der fünfte Band aufgrund des Todes des Autors nie mehr erscheinen wird, wodurch uns seine Einsichten in die heutige Zeit vorenthalten bleiben. Wenn ich spekuliere: Er wäre zur Schlussfolgerung gekommen, dass wir nicht nur den Kapitalismus überwinden müssen, sondern schon heute gegen jede nationale Spaltung und jeden Sexismus ankämpfen müssen, da diese einzig den Herrschenden helfen, uns weiterhin unterdrückt zu halten und ihr kaputtes System aufrechtzuerhalten.

Allen, die wissen wollen, warum die Welt so ist, wie sie ist, kann ich diesen Band aus voller Überzeugung ans Herz legen, der auch ohne die ersten drei Bände zu kennen ziemlich gut verständlich ist.

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