Am 09.11.2023 hat wie jedes Jahr beim Mahnmal am ehemaligen Aspangbahnhof in Wien, von welchem die meisten Jüd*innen aus dieser Stadt deportiert wurden, eine Gedenkveranstaltung stattgefunden. Hier meine Rede bei diesem traurigen Anlass.
Der 9. November ist für mich auch aus persönlichen Gründen ein besonderer Tag. Das Datum ist eng mit der Deportation meines Urgroßvaters verbunden, die exakt zwei Wochen später erfolgte. Nicht im selben Jahr, sondern drei Jahre später. Hugo Quittner war Jude.
In unserer Familie wurde wenig darüber gesprochen. In dem Teil der Familie, in dem ich aufwuchs, war immer wieder die Rede davon, dass mein Urgroßvater abgeholt wurde. Meine Großmutter hat bis zu ihrem Tod nicht erfahren, was mit ihm passiert ist. Ich selbst konnte es erst Jahre nach ihrem Tod in einem Findbuch herausfinden. In der Familie der Schwester meiner Großmutter kursierten Geschichten vom Reichtum meines Urgroßvaters, der in den 20er-Jahren in Frühpension ging, die mir wenig glaubwürdig erscheinen. Angeblich verblieb dieser bei meiner Großmutter, bei der ich aufwuchs, allerdings nichts von viel Geld gemerkt habe. Diese Erzählung stammt aus der zugegebenermaßen ziemlich wirren Autobiografie meines englischen Großcousins.
Nicht nur die Erzählungen sind widersprüchlich, wie ich bei meinen Recherchen zur Lebensgeschichte meines Urgroßvaters herausfinden konnte. Mit Sicherheit war auch er selbst widersprüchlich. Er war lange in den USA und dort bist du seinem Tod verheiratet. Als er nach Wien zurück kam, zeugte er zwei Töchter, die darum kämpfen mussten, als leibliche Kinder anerkennen zu werden. Als Direktor eines Kinos, der Stummfilme selbst am Klavier begleitete, war er mit Sicherheit nicht der beste Arbeitgeber. Bei meinen Recherchen fand ich Strafen wegen der Nicht-Einhaltung von Arbeiter*innenschutzbestimmungen. Immer wieder führte er auch öffentliche Kontroversen mit anderen in den Zeitschriften der damaligen Kinoszene in Österreich. Ein öffentlicher Konflikt drehte sich um den gegen ihn erhobenen Vorwurf, sich vor dem Kriegsdienst gedrückt zu haben. Andererseits hat er auch einmal eine Strafe bekommen, weil er für die Kinderfreunde im Kino einen nicht von der Zensur freigegebenen Film aufführte.
Die Familie stammte ursprünglich nicht das Wien. Bis auf einen Bruder, der sich in Prag niederließ, kamen alle im ersten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts in diese Stadt. Schon in dieser Zeit – der Bürgermeister in diesen Jahren ist uns allen gut und negativ in Erinnerung – ist auf den Meldezetteln der Familie das bewusste Unsichtbar-Machen jüdischen Seins und damit des jüdischen Lebens erkennbar. Die Schwestern, welche nach dem damaligen Empfinden jüdische Namen hatten, wurden auf dem Meldezettel einfach umbenannt. Mirjam zum Beispiel wurde zu Maria oder Mizzi.
Ein Verschwinden, das wir auch hier bei diesem Mahnmal heute noch erkennen können, an dem die niedergelegten Steine ständig entfernt werden.
Die vier Schwestern meines Urgroßvaters haben den Krieg alle überlebt. Eine sogar in Wien. Sie ist auf dem neuen jüdischen Teil des Zentralfriedhofs begraben und ich hätte sie noch kennen lernen können. Allerdings gab es scheinbar keinen Kontakt mehr zu ihr. Ich weiß nicht, ob ich mit 14 Interesse daran gehabt hätte. Familie hat mich damals altersgemäß genervt. Geschichte nicht.
Allerdings lernte ich im gleichen Jahr den ehemaligen Chef meiner Großmutter, der vor dem Krieg mit seinem Bruder ein Krawattengeschäft im 1. Bezirk führte, kennen. Mit viel Glück überlebte er die Shoa in Frankreich. Ein netter älterer Mann, den ich an einem warmen Sommertag in Südfrankreich traf. Er ermöglichte mir zum ersten Mal, das Grauen nachempfinden zu können. Wegen der Wärme seine Hemdsärmel hochkrempelnd, zuckte er kurz zusammen. Im ersten Moment war mir nicht klar, warum. Bis ich die eintätowierte Nummer auf seinem Unterarm sah ... Dieses Zucken wiederholte sich mehrmals.
Keiner der der Brüder meines Urgroßvaters überlebt die Shoa. Einer wurde in Theresienstadt ermordet, die anderen beiden in Auschwitz. Mein Urgroßvater selbst überlebte die Deportation von diesem Ort hier nur sechs Tage. Kurz nachdem er aus dem Zug stieg oder vermutlich eher wie ein Stück Vieh getrieben wurde, fiel ein Schuss und seine Leiche gesellte sich zu vielen anderen in eine Grube an einem dieser vielen Orte des Grauens: Kaunas. Möglicherweise hatte er das am wenigsten grausame Schicksal der vier Brüder, da er im Gegensatz zu diesen den Terror in den Lagern nicht erleben musste.
Alle vier Schwestern haben überlebt. Eine davon wie gesagt in Wien. Bis heute konnte ich nicht herausfinden, wie das möglich war. Die drei anderen hatten das Glück, flüchten zu können. Eine nach Schweden, die anderen beiden nach England. Ein Glück, das viele damals nicht hatten. Ein Glück, dass viele auch heute schon wieder nicht mehr haben, obwohl als Reaktion auf die Shoa das Recht auf Flucht nach 1945 im Völkerrecht kodifiziert wurde. Heute ist dieses wieder massiven Angriffen ausgesetzt und wird Stück für Stück ausgehöhlt, ist auch in Österreich schon fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.
Die Geschichte meiner Familie zeigt, dass das Recht auf Flucht oft der Unterschied zwischen Leben und Tod ist.
Ich möchte daher mit den Worten einer Frau schließen, die mir – wie so viele andere mutige Menschen, die ihre Menschlichkeit im Angesicht des einmaligen und mit nichts vergleichbaren absoluten Bösen der Shoa nicht preisgegeben haben – bis gestern Abend unbekannt war. Sie wird allgemein als Widerstandskämpferin anerkannt, da sie Juden und Jüdinnen zur Flucht verholfen hat. Heutzutage würde sie wohl Schlepperin genannt und als solche verurteilt.
Hier nun die Worte von Lagi Ballestrem, die mir für die aktuelle Verfassung der Welt mehr als passend erscheinen: „Ich möchte nicht an die Vergangenheit denken, da sie ihre Bedeutung verloren hat. Die Welt hat nichts aus ihr gelernt – weder die Schlächter noch die Opfer oder die Zuschauer. Unsere Zeit ist wie ein Totentanz, dessen unheimlichen Rhythmus wenige verstehen. Alle wirbeln verwirrt herum, ohne den Abgrund zu sehen.“
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