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Freitag, 3. Juni 2011

Interview zu den Perspektiven der Kämpfe im Sozial- und Gesundheitsbereich

Interview mit Lis Mandl (Betriebsrätin VKKJ, damals im KAV beschäftigt) und mir - geführt von Samuel Stuhlpfarrer, erschienen unter anderem auf linke Woche.

Dürfen Beschäftigte im Sozialbereich eigentlich streiken?

Lis Mandl: Die Frage stellt sich für mich ein bisschen anders. Eigentlich müsste sie heißen: Wie können die Beschäftigten ihre Arbeit professionell verrichten? Welche Rahmenbedingungen, Arbeitszeiten braucht es und natürlich auch zu welchem Geld passieren diese Höchstleistungen. Wie können wir den Bedürftigsten eine hochwertige Betreuung, Unterstützung und Leistung anbieten. Was ist soziale Arbeit wert? Ein Problem das ich hier sehe, ist, dass viele KollegInnen meinen, es würde auf Kosten der KlientInnen bzw. PatientInnen gehen, wenn im Sozial- und Gesundheitsbereich gekämpft wird. Das stimmt natürlich für einen begrenzten Zeitraum auch, aber langfristig kommen bessere Arbeitsbedingungen v.a. auch den KlientInnen zu Gute. Daher ist bei Abwägung der Interessen das Argument falsch, dass wir das nicht dürfen, weil es auf Kosten der KlientInnen ginge.

Warum tun sich dennoch so viele SozialarbeiterInnen schwer, offensiv für ihre Rechte zu kämpfen?

Lis Mandl: Viele Beschäftigen im Sozial- und Gesundheitsbereich arbeiten in sensiblen Bereichen. Egal ob im Behinderten- und Pflegebereich oder in der Suchtarbeit – die ProfessionistInnen werden gebraucht.
Die Arbeit mit Menschen erfordert viel Kompetenz und Verantwortungsgefühl, genau diese Eigenschaften machen das „für sich kämpfen“ dann so schwer. Viele haben das Gefühl, für die KlientInnen verantwortlich zu sein und beißen durch, so nach dem Motto: “Wenn schon die Politik die Leute hängen lasst, bleib ich wenigstens dran“. Allerdings muss gesagt werden, dass sich die Einstellung geändert hat. Spätestens seit Oberösterreich wird wieder laut über Streikformen im Gesundheits- und Sozialbereich nachgedacht. Die Beschäftigten sind bereit, die Verantwortung denen zurückzugeben, bei denen sie liegt – den PolitikerInnen.

Axel Magnus: Ich sehe große Unterschiede zwischen verschiedenen Berufsgruppen und Bereichen in unserer Branche. Die meisten KollegInnen in Behindertenhilfe, Kinder- und Jugendarbeit sowie psychosozialer Arbeit wären durchaus für Aktionen zu gewinnen. Hier bremst dzt. v.a. der größte Bereich – die Pflege. Andererseits sehe ich gerade auch bei uns im Betrieb große Unterschiede, was die Ausbildung betrifft. Offensichtlich gibt es Ausbildungen, wo die KollegInnen mit Individualismus geimpft werden. Bei uns spiegelt sich das auch im gewerkschaftlichen Organisationsgrad wider – dieser ist bei ÄrztInnen, PsychologInnen, sonstigen AkademikerInnen und administrativem Personal hoch – diese beteiligen sich auch aktiv an Aktionen. Bei den meisten SozialarbeiterInnen hingegen sieht es bei uns anders aus.

Es geht ja nicht nur darum, dass der Sozialbereich mit massiven Kürzungen konfrontiert ist. schon bislang war der Arbeitsdruck in diesem Bereich extrem hoch. Wie kann man sich den Arbeits- und Lebensalltag von Beschäftigten im Sozialbereich vorstellen?

Axel Magnus: Ich fange mit einem Beispiel an. In einer unserer Abteilungen wurde die Anzahl der täglich zu betreuenden KlientInnen innerhalb eines Jahres um 50% erhöht. Dass das den Arbeitsdruck enorm erhöht hat, ist klar. Gleichzeitig hat das aber natürlich auch die Zeiten für kollegialen Austausch, Fortbildungen, Selbststudium usw. massiv reduziert. Gerade in solchen Abteilungen ist es auch enorm schwer, sich für seine eigenen Rechte aktiv einzusetzen. Das zeigt sich z.B. auch daran, wie viele KollegInnen aus welcher Abteilung an Betriebsversammlungen teilnehmen.
Der Arbeitsalltag insgesamt sieht im Regelfall so aus: Termin mit/bei KlientIn – Dokumentation – Termin mit/bei KlientIn – Dokumentation usw. usf. Hin und wieder wird dieses Rad von Teamsitzungen, Supervisionen und ganz selten Fortbildungen unterbrochen, aber das auch nicht mehr in allen Bereichen bzw. Betrieben. Früher ist immer davon gesprochen worden, dass Fabriksarbeit so eintönig sei. Mit der zunehmenden Spezialisierung der sozialen Einrichtungen und der Verbetriebswirtschaftlichung der Logik sozialer Verwaltung und Betreuung gilt das mittlerweile aber auch für den Sozialbereich. Gleichzeitig ist die materielle Absicherung von vielen KollegInnen unzureichend. Viele Jobs sind so anstrengend, dass kaum jemand Vollzeitarbeit aushält. Das führt – insbes. in den geringer entlohnten Bereichen, wie z.B. bei Heimhilfen, dazu, dass gar nicht wenige KollegInnen selbst unter der ohnedies sehr nieder angesetzten offiziellen Armutsgrenze leben.

Lis Mandl: Im Wiener KAV werden im Monat über 50 Millionen eingespart und das vor allem beim Personal. Gerade in den Krankenhäusern ist dieser Druck enorm spürbar. Laut Studie sind 40% bereits im Burnout bzw. davon gefährdet. Die Verantwortung (und oft auch die Liebe zur Arbeit) gepaart mit der Angst, Fehler zu machen, es nicht mehr zu schaffen, ist ein Teufelskreislauf, der alleine nicht mehr durchbrochen werden kann. Zum Lebensalltag muss gesagt werden, dass oft die Arbeit mit nach Hause genommen wird. Viele KollegInnen können nicht mehr abschalten – schwierige Fälle, aber auch das Verhalten von Vorgesetzten verfolgen die Beschäftigten bis in die Träume. Manche WissenschafterInnen nennen das auch emotionale Schwerarbeit.

Wären die Arbeitsbedingungen nicht schon Grund genug, um etwa für einen besseren Kollektivvertrag zu kämpfen?

Axel Magnus: Selbstverständlich. Eine massive Arbeitszeitverringerung auf 32 Stunden bei vollem Lohnausgleich und die Einführung der 4-Tage-Woche könnten den Druck auf die KollegInnen deutlich verringern. Gleichzeitig würde damit Teilzeitarbeit finanziell aufgewertet. Ausreichende Supervision und bezahlte Fortbildungen sind ebenfalls erforderlich. Und wenn schon der sonst nicht gerade gewerkschaftsfreundliche Professor Mazal fordert, dass KrankenpflegerInnen gleich viel verdienen müssen wir AutomechanikerInnen, dann kann ich mich dieser Forderung nur vollkommen anschließen. Er hat da übrigens eine Lohnerhöhung von ca. 45% gefordert – nicht schlecht und vollkommen verdient würde ich sagen.

Lis Mandl: Von welchen Kollektivvertrag (KV) reden wir? Ein Problem in diesen Bereich ist die Zersplitterung der Branche. Und das zieht sich durch. Vom Betrieb, zu den Gewerkschaften bis zu den Kollektivverträgen. Und nun gibt's in Wien das Bestreben von Unternehmensseite den eh schon ziemlich miesen BAGS-Kollektivvertrag durch einen eigenen KV zu unterwandern. Genau diese Spaltung gilt es zu überwinden, die Forderung liegen eh klar auf dem Tisch!

Der ÖGB scheint ein schwieriges Verhältnis zu seinem Selbstverständnis als Kampforganisation zu haben. Kann man ohne ÖGB kämpfen? muss man mit ihm kämpfen? Wie sieht eure Rolle als kämpferische GewerkschafterInnen in diesem Spannungsfeld aus?

Axel Magnus: Ich glaube durchaus, dass mensch mit dem ÖGB kämpfen kann – zumindest mit Teilen davon. Gerade die GPA-djp hat ja in den letzten Jahren einige ansatzweise kämpferische Kampagnen gemacht – z.B. KiK, Handel, aber auch im Sozialbereich. Hier gilt es anzusetzen, und diese ersten Fortschritte weiter auszubauen. Und wenn der ÖGB kämpft, dann müssen sich natürlich alle kritischen und kämpferischen GewerkschafterInnen daran beteiligen. Schwierig ist sicherlich, dass manchmal die eine Gewerkschaft zum Thema X kampfwillig wäre und die andere nicht. Wir bewegen uns hier also in vielen Widersprüchen.
Unsere Rolle in diesem Spannungsfeld ist, so denke ich, jene der VorantreiberInnen. Gute Ansätze gilt es aufzugreifen und zu verstärken; gleichzeitig müssen wir immer auch schon den nächsten Schritt vorschlagen, also versuchen, das Klassenbewusstsein der KollegInnen weiter zu entwickeln, aber auch die Kampfformen auf eine höhere Ebene heben. Wir müssen klar machen, dass wir auch ein Teil dieser unserer Gewerkschaft sind, auch wenn wir derzeit keine Mehrheit für unsere Positionen haben.
Fraktionsübergreifend müssen die kämpferischen Kräfte für eine Politik eintreten, die es den KollegInnen wieder möglich macht, selbst aktiv über ihre Gewerkschaft zu bestimmen. Der Zwilling einer kämpferischen Gewerkschaft ist eine demokratische Gewerkschaft – eines ohne das andere kann es nicht geben. Und wenn viele KollegInnen heute den ÖGB und seine Gewerkschaften – mit vielen guten Gründen – kritisch sehen, dann müssen wir sie davon überzeugen, dass wir viele der genannten Probleme gemeinsam lösen können, wenn wir auch in unseren eigenen Reihen gemeinsam dafür kämpfen, wenn wir also gemeinsam dafür kämpfen, die Gewerkschaften wieder zu demokratischen Kampforganisationen zu machen, oder wie Karl Marx das einst formulierte: Lohnfechterinnenn der Arbeit und Schulen des Sozialismus.

Abschließend: Was bräuchte es eurer Sicht, damit sich die Verhältnisse von KlientInnen und Beschäftigten im Sozialbereich nachhaltig ändern?

Axel Magnus: Geld. Ganz einfach. Heute leiden KlientInnen und Beschäftigte unter den Sparpaketen der Länder und des Bundes. Wenn das so weiter geht, wird es in Zukunft sicherlich auch zu Verteilungskämpfen zwischen diesen beiden Gruppen im Sozialbereich kommen. Doch die Beschäftigten haben ein Recht auf die bestmöglichen Arbeitsbedingungen. Und die KlientInnen haben ein Recht auf bestmögliche Betreuung. Gemeinsam können wir das durchsetzen. Das wird aber nicht möglich sein, ohne die Verteilungsfrage offensiv anzusprechen. Die Forderung nach einer Sozialmilliarde ist längst von der Realität überholt werden. Wir brauchen viele Milliarden, um die Leistungen für die bedürftigen Menschen in hoher Qualität zur Verfügung stellen zu können und unsere Arbeitsbedingungen auf ein akzeptables Maß anzuheben. Mit einer ernsthaften und stark progressiven Besteuerung von Gewinn und Vermögen wäre das aber leicht möglich. Doch dazu fehlt den Herren und Damen PolitikerInnen der Mut.

Lis Mandl: Ich will weg von dieser Almosen- und SozialschmarotzerInnendebatte. Wir leben im fünftreichsten Land. Ein hochwertiges Gesundheits- und Sozialsystem ist da einfach nur eine Pflichtkür! Natürlich muss mensch sich die Systemfrage stellen. Alter Hut – aber immer noch ungelöst! Und was die Demokratisierung betrifft, die darf bei den Gewerkschaften nicht halt machen. Diese völlige Entmündigung der KlientInnen gerade im Gesundheitsbereich gehört durchbrochen. Kontrolle über die Leistung durch Beschäftigte und Betroffene – das ist meine Vision. Ich staune immer wieder über die Kreativität und das menschliche und fachliche Know-How meiner KollegInnen. Dieses Potential soll sich entwickeln können – jedeR nach ihren/seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen!

Danke für das Interview!

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