Mittwoch, 15. April 1998

30 Jahre Mai 68: Mythos oder Chance?

Viele werden sich die Frage stellen, warum wir uns heute - 1998 - noch immer mit diesem alten Hut auseinandersetzen.

Die älteren Jahrgänge sind wohl nach wie vor gespalten. Da gibt es diejenigen, die durch die Aktionen der rebellischen StudentInnen zutiefst in ihrem Weltbild getroffen wurden. Und da gibt es die anderen; die, die 1968 dabei waren. Aber auch sie schweigen zumeist über ihre Erfahrungen von damals. Die meisten haben ihren Frieden mit der bürgerlichen Gesellschaft gemacht und wollen nicht mehr an den jugendlichen Übermut der 60er erinnert werden. Und dann gibt es auch noch die jüngeren Jahrgänge, denen das oft verklärte Jahr 1968 kaum etwas sagt. Aber 1968 geht uns alle etwas an, denn wir können einiges daraus lernen!

Bewegung?


Vorweg sollten wir uns über eines klar werden. Das Jahr 1968 als solches wird oft überbewertet. Es war dies zwar das Jahr, in dem es in vielen Ländern zu massiven Protesten von Studierenden, Jugendlichen und oft auch ArbeiterInnen kam. Aber 1968 war letztlich nur der Höhepunkt einer Welle von Jugendprotesten, die in den 60er-Jahren eine Reihe von Ländern rund um den Globus erschütterten.
Auch wenn sich die spezifischen Charakteristika der Protestbewegungen von Land zu Land deutlich unterscheiden, so lassen sich doch einige Merkmale festmachen, die sie fast überall gleichermaßen kennzeichneten. Zum einen standen in fast allen Staaten die StudentInnen an der Spitze der Protestbewegungen - sei es in Frankreich, den USA, der damaligen CSSR oder Mexiko. Dies gilt für imperialistische Ländern ebenso wie für Halbkolonien oder auch degenerierte ArbeiterInnenstaaten. Zweitens war es das Ziel all dieser Protestbewegungen, einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen. Drittens waren diese Bewegungen überall eine Reaktion auf drastische Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die sich mit der neuen Weltordnung nach dem II.Weltkrieg schön langsam herauskristallisierten und in den 1960ern erstmals deutliche Auswirkungen zeitigten.
Im folgenden geht es uns im wesentlichen um imperialistische Staaten. In diesen hatte sich nach 1945 im Zuge der veränderten internationalen Arbeitsteilung und neuer Produktionstechnologien der Produktionsprozeß drastisch geändert. Es kam zu einer breiten Industrialisierung und damit dem Anwachsen sowohl der industriellen als auch der im Dienstleistungssektor beschäftigten ArbeiterInnenklasse. Die Einführung neuer Technologien und der Massenproduktion brachte die Notwendigkeit einer breiteren fachlichen Qualifikation mit sich. Gleichzeitig erlebten die imperialistischen Wirtschaften fast zwei Jahrzehnte hindurch einen wahren Boom, während das Lohnwachstum hinterher hinkte. Schließlich brachte die Einführung neuer Technologien, zunehmende Fließbandarbeit und Arbeitshetze eine verstärkte Entfremdung der ArbeiterInnen zu ihren Produktionsmitteln mit sich.
Wollen wir also die allgemeinste, grundlegendste Bedingung der für die bürgerlichen PolitikerInnen und IdeologInnen so unerwarteten “Mai-Explosion” anführen, so müssen wir auf folgenden, in der Natur der kapitalistischen Entwicklung begründeten Widerspruch hinweisen. Einerseits befand sich die ArbeiterInnenklasse in den 1950er und 1960er Jahren in einer gestärkten Position innerhalb des Klassenkräfteverhältnisses: Sie wuchs sowohl numerisch als auch von ihrem gesellschaftlichen Gewicht her und konnte aufgrund der Vollbeschäftigungssituation über den Arbeitsmarkt nicht so leicht unter Druck gesetzt werden. Andererseits näherte sich der kapitalistische Wirtschaftszyklus seinem Ende, wodurch sich der Spielraum für die UnternehmerInnen verringerte (1971 brach das internationale Währungssystem von Bretton Woods zusammen; bald darauf folgte die erste tiefe Rezession). Dieser wachsende Gegensatz lieferte das Pulver, der die Klassenkämpfe in verschiedenen Staaten zum Explodieren brachte (v.a. Frankreich, Italien, Britannien aber auch die USA und in gewissem Maß Deutschland).
Doch es wäre verkürzt, den Aufschwung der ArbeiterInnen- und StudentInnenkämpfe alleine mit der Entwicklung an der ökonomischen Basis erklären zu wollen. Denn die wirtschaftlichen Veränderungen führten natürlich auch zu wichtigen gesellschaftlichen Umwälzungen.
So benötigte das Kapital zur Aufrechterhaltung dieser veränderten Produktionsbedingungen viele, besser ausgebildete Arbeitskräfte. Dies bedingte die Öffnung der Universitäten für Jugendliche aus ArbeiterInnenhaushalten und auch für Frauen - zuvor von den Unis geradezu ausgeschlossenen sozialen Gruppen also - in einem zuvor nicht bekannten Ausmaß. Dies erklärt erst einmal die Entwicklung der Massenuniversität. Zum anderen kamen damit aber auch soziale Schichten an die Unis, die andere soziale, wirtschaftliche und politische Interessen als die bis dahin dominanten an den Unis hatten. Der Grundstein für einen Aufschwung radikalerer Politik an den Unis war damit gelegt.
Darüberhinaus spiegelte sich die Entfremdung auch in den zwischenmenschlichen Prozessen wider und mit der zunehmenden Bildung wuchs auch die Sensibilität für Unterdrückung. Studierende und Jugendliche erlebten zu dieser Zeit im Elternhaus oder an den Unis große Einschränkungen ihrer Freiheit. Gerade der Drang nach mehr und neuen Freiheiten, sowohl im politischen als auch privaten Bereich, wurde so zum Zunder der Revolte. An den meisten Unis gab es z.B. noch getrenntgeschlechtliche StudentInnenheime und Besuche durch Angehörige des jeweils anderen Geschlechts waren verboten. Im Jahrzehnt der sexuellen Revolution barg dies natürlich eine gehörige Portion Sprengstoff in sich. Aber auch die traditionellen Formen und Inhalte des Unterrichts in Unis und Schulen, die Einschränkungen der politischen Betätigungsfreiheit an den Bildungseinrichtungen und reaktionäre Lehrende waren immer wieder Auslöser. Und da war natürlich auch die internationale Lage.

Internationale Lage


Eine wichtige Triebfeder der internationalen Welle von Jugendprotesten waren die internationalen Vorbilder, die vielen Jugendlichen als Symbole der Möglichkeit des Kampfes gegen Unterdrückung und Ausbeutung erschienen. Es handelte sich dabei einerseits um das vietnamesische Volk, das in diesem Jahrzehnt seinen Kampf gegen die Unterdrückung durch den US-Imperialismus vor den Augen der Welt focht. Andererseits rankte sich ein Mythos um die Errungenschaften der kubanischen Revolution und nicht zuletzt fand in China in diesem Jahrzehnt die von Mao-Tse-Tung initiierte sogenannte Große Proletarische Kulturrevolution statt. In all diesen Auseinandersetzungen standen ArbeiterInnen und Jugendliche gemeinsam im Kampf. Es ist also nicht verwunderlich, daß viele Jugendliche in den imperialistischen Zentren Mao, Che Guevara und auch Ho-Tschih-Minh zu ihren Heroen erkoren und versuchen wollten, deren Errungenschaften in der eigenen Gesellschaft zu verwirklichen.
Andererseits waren die 1960er auch das Zeitalter der weltweiten Verbreitung des Fernsehers. Damit wurde es möglich, die Befreiungskämpfe in anderen Ländern quasi live mitzuverfolgen. Viele Studierende in den imperialistischen Nationen solidarisierten sich in zahlreichen politischen Aktionen mit den Kämpfen gegen die Unterdrückung z.B. in Persien, Südafrika und Lateinamerika. Deutlich wird dies nicht zuletzt daran, daß das weltweit wohl häufigste Thema von Demonstrationen in den 1960ern Vietnam war. Diese aktive Solidarität mit Unterdrückten und Ausgebeuteten überall auf der Welt zeigt, daß der Großteil der revoltierenden Studierenden ein radikales, subjektiv revolutionäres Bewußtsein hatte.
Es gab auch andere internationale Vorbilder. Natürlich gab es aber in den Bewegungen der 1960er-Jahre so etwas wie eine Ungleichzeitigkeit der Entwicklung. Sie fanden nicht überall gleichzeitig statt und Bewegungen aus bestimmten Ländern wurden somit immer wieder in anderen Ländern zum Vorbild genommen. Den größten internationalen Einfluß dürften 1968 wohl die Ereignisse in Frankreich, den USA, der BRD und der damaligen CSSR gehabt haben.
Wenn auch überall immer wieder diese Beispiele hervorgehoben werden, so sollen doch an dieser Stelle zunächst zwei andere Länder genannt werden, die sich beide durch überaus militante Kämpfe der Massenbewegungen auszeichneten. In beiden begannen die Proteste bereits sehr früh in den 1960ern. Zum einen handelt es dabei um Südkorea, wo Studierende, Jugendliche und militante ArbeiterInnen zusammen den Sturz des verhaßten Präsidenten Syngman Rhee herbeiführten. Damals wurde erstmals weltweit ersichtlich, welche Kampfkraft koreanische ArbeiterInnen und StudentInnen entwickeln können.
Zum anderen handelt es sich dabei um Japan, wo bereits 1960 Studierende den Besuch von US-Präsident Eisenhower verhindert hatten. Dieser sollte in Japan die Verlängerung des “Sicherheitsvertrages” unterzeichnen, der den imperialistischen US-Truppen ihre Präsenz in Japan gestattet. Da große Teile der ArbeiterInnenklasse ebenfalls gegen dessen Verlängerung waren, kam es zu einer Solidarisierungswelle mit den Studierenden, was schließlich mit dem Sturz des Ministerpräsidenten endete. Weiters kam es später zu monatelangen Besetzungen von Universitätsgebäuden. Teilweise wurden ganze Straßenzüge in Tokyo von den Studierenden besetzt. Gemeinsam mit den ansässigen armen Bauern und Bäuerinnen besetzten Studierende auch einen US-Militärflughafen und verhinderten durch eine Besetzung über Jahre die Eröffnung des neu erbauten Tokyoter Flughafens Narita. Immer wieder kam es zu richtiggehenden Straßenschlachten mit der Polizei. Die japanische StudentInnenbewegung war wohl die militanteste von allen.
Die StudentInnenunruhen in den USA, v.a. an der Universität Berkeley in Kalifornien, wurden ebenso weltweit nachgeahmt wie die Aktivitäten der bundesdeutschen Studierenden, die mit Rudi Dutschke eine der wohl international bekanntesten Persönlichkeiten dieser Protestwelle hervorbrachten.
Der Pariser Mai hat noch heute für viele Linke einen gewissen Zauberklang, denn was an den Massenprotesten in Frankreich herausragt, ist die aktive gegenseitige Solidarisierung von Studierenden und ArbeiterInnen. Auch wenn ihre Ziele sehr unterschiedlich waren, auch wenn die Strukturen der Zusammenarbeit nicht wirklich demokratisch und entwickelt waren, es hat ihn gegeben, den gemeinsamen Kampf gegen die Maßnahmen des Regimes de Gaulle in beiden Bereichen. Der Generalstreik der französischen ArbeiterInnenklasse im Mai 1968, die Straßenschlachten der Studierenden mit der Polizei im Quartier Latin, sie gemeinsam haben zu Veränderungen im politischen und gesellschaftlichen System der 5. Republik geführt, die niemand erwartet hatte. Wenn es auch noch einige Jahre dauern sollte, so war 1968 in Frankreich zumindest der Anfang vom Ende des nahezu autokratischen und jedenfalls bonapartistischen Regimes der 5. Republik, aber auch der Beginn des Niedergangs der Kommunistischen Partei (PCF), die den Kampf der ArbeiterInnen und der StudentInnen in einem Kuhhandel mit der Regierung verraten hatte.
Auch im sog. Prager Frühling, der einen “Sozialismus mit menschlichem Angesicht” verwirklichen wollte, standen ArbeiterInnen und StudentInnen Seite an Seite im Kampf gegen das stalinistische System. Es ist allgemein bekannt, daß ihr Versuch - ihn politisch zu bewerten fehlt hier leider der Raum - unter den Panzerketten des Warschauer Paktes endete. Nichtsdestotrotz wurde er zum internationalen Vorbild, denn viele Studierende in anderen Ländern und Kontinenten erkannten: Es gibt eine Alternative zum Stalinismus. Eine Alternative, für die es sich durchaus zu kämpfen lohnt.
Abschließend sei noch folgendes vermerkt. Es war natürlich kein Zufall, daß oft StudentInnen eine initiierende und führende Rolle bei den Protesten spielten. Als gebildete Zwischenschicht sind sie oft eine Art gesellschaftlicher Seismograph, die als erste politische Veränderungen wahrnimmt und artikuliert. Das kann natürlich nicht über die Grenzen studentischen Protestes hinwegtäuschen. Da ihnen die Verankerung in der proletarischen Arbeitswelt fehlt und viele von ihnen einer privilegierten Zukunft entgegen gehen, schwankte der studentische Protest zwischen spektakulären, oft abgehobenen und unvermittelten Aktionen und reformistischer Anpassung. Der subjektive Wille zum Bündnis mit der ArbeiterInnenklasse war natürlich sehr gut und wichtig. Die besten Teile der StudentInnen organisierten sich dann auch in linken, revolutionären Gruppen. Doch da eine dauerhafte Verbindung mit der ArbeiterInnenbewegung mißlang, mußte die StudentInnenbewegung letztlich scheitern. Diverse Theorien, daß die StudentInnen eine “neue Avantgardeschicht” darstellen würden, blamierten sich bald vor der Realität.
Das alles kann und soll jedoch nicht die Bedeutung des Mai 1968 schmälern. Er war letztlich politischer Ausdruck und Startsignal einer neuen Periode - geprägt von Klassenkämpfen und gesellschaftlicher Polarisierung.

Folgen und Lehren


Mit einigen wenigen Ausnahmen gilt, daß die 1968er-Bewegung kurzfristig relativ wenig erreicht hatte. Viele der AktivistInnen tauchten bald wieder ins Privatleben ab oder traten einen langen Marsch durch die Institutionen (in den traditionellen politischen Parteien) an, im Irrglauben, so die Gesellschaft verändern zu können. Tatsächlich hat die Gesellschaft sie verändert und sie sind heute zumeist vollständig in den bürgerlichen Herrschaftsapparat integriert. Von ihrer einst systemkritischen Einstellung ist außer im privaten Kreis der 68er-NostalgikerInnen meist nichts mehr zu bemerken.
Die aufgrund fehlender politischer Perspektiven gescheiterte Verschmelzung mit der ArbeiterInnenklasse verstärkte unter vielen StudentInnen den kleinbürgerlichen Druck. Während ein Teil völlig privatisierte, suchten viele andere nach neuen politischen Betätigungsfeldern abseits der ArbeiterInnenbewegung. Diese fanden sie in den seit den frühen 1970er Jahren überall entstehenden neuen sozialen Bewegungen, also Bewegungen wie etwa die feministische Frauenbewegung, die Friedensbewegung, die Ökologiebewegung oder die Anti-AKW-Bewegung.
All diesen Bewegungen ist eines gemeinsam: Sie behandeln all diese sogenannten Menschheitsprobleme als klassenunspezifische Fragen. Nun soll hier natürlich nicht bestritten werden, daß nahezu alle Menschen z.B. von der Umweltzerstörung betroffen sind. Die neuen sozialen Bewegungen wollen uns aber weismachen, daß sich in den von ihnen bekämpften Problemen keine Klassengegensätze widerspiegeln und daß sie keine Klassengesellschaft zur Grundlage haben. Der Klassengegensatz wird von ihnen zumeist vielmehr als überkommen bezeichnet. Ihnen zufolge sei es also möglich, diese Probleme mit Reformen innerhalb der herrschenden Gesellschaft zu überwinden, falls nur ausreichend politischer Druck erzeugt wird.
Angesichts der Schwäche all der genannten Bewegungen verwundert ihr Scheitern kaum. Ihr kleinbürgerliches Politikverständnis ist einerseits Folge mangelnder politischer Orientierung, andererseits Ergebnis fehlender Ausrichtung auf die ArbeiterInnenklasse und damit zur Niederlage verdammt. Besonders deutlich wird dies bei der autonomen, klassenübergreifenden Frauenbewegung. Eine Kapitalistin hat einfach - alleine schon aufgrund ihrer finanziellen Situation - andere Interessen als eine Arbeiterin, eine alleinerziehende Mutter ohne Job, etc. Dementsprechend unterschiedlich sind die Probleme und Kampfformen, ob man sich nun auf bürgerliche Frauen, freiberufliche Frauen in selbstverwalteten Projekten u.ä. oder proletarische Frauen orientiert.

Was sagt uns das Jahr 1968 heute noch?


Die Massenbewegungen der 1960er waren eine Chance, die jedoch verspielt wurde. Gerade in den Ländern, wo eine breitere Solidarisierung von ArbeiterInnen und StudentInnen stattfand, boten sich zahlreiche Ansatzpunkte für revolutionäre Politik. Es gab aber zu dieser Zeit nirgendwo eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei mit einem konsistenten Programm und korrekter Perspektive, die imstande gewesen wäre, diese sich bietende historische Chance zu nutzen.
Auch wenn es selbst in Frankreich 1968 keine vollständig entwickelte revolutionäre Situation gegeben hat, so gab es doch bedeutende Elemente einer solchen. Genau so schnell wie diese entstanden, verschwanden sie allerdings auch wieder. So entstand etwa durch den Generalstreik im Mai des Jahres in zahlreichen Fabriken eine Doppelmachtsituation. Begleitet wurde diese durch Ansätze von ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion. Diese Situation stellte die Macht der Bosse in bestimmten Gegenden in Frage und deutete die Kraft der mobilisierten ArbeiterInnenklasse an und das selbst in einer Situation, in der kaum (demokratisch gewählte) Streikkomitees bestanden. In dieser vor-revolutionären Situation stellte sich die Frage: Welche Klasse herrscht? ArbeiterInnen oder KapitalistInnen? Die Antwort der reformistischen Parteien (v.a. der PCF) und der Gewerkschaftsbürokratie war eindeutig: das Kapital. Dies ist auch kein Wunder, ist die reformistische Bürokratie doch massiv in den bürgerlichen Staatsapparat und das betriebliche Management integriert. Der Reformismus hat 1968 einmal mehr sein bürgerliches, konterrevolutionäres Gesicht gezeigt.

Die Bedeutung des Reformismus


In dieser Situation, wo PCF und Gewerkschaften klarstellten, daß sie keinesfalls die Masse der mobilisierten ArbeiterInnen und StudentInnen in den Kampf um die gesellschaftliche Macht führen würden, hätte eine revolutionäre Führung eine andere Perspektive vorgegeben. Zentrale Aufgabe in dieser Zeit wäre die Wahl von demokratischen Streikkomitees bzw. lokalen Aktionskomitees gewesen, die sich national koordinieren und dadurch die Kämpfe der Massenbewegung zusammenführen. Damit hätte die Initiative bei der Massenbewegung und unabhängig von den bürokratischen Apparaten verbleiben können. Doch da diese Perspektive fehlte, gelang es der Regierung, die Initiative wieder an sich zu reißen.
Die ArbeiterInnen entwickeln in ihren Kämpfen spontan Aktivitäten, die in Richtung Kontrolle ihres gesamten Lebens tendieren. Gleichzeitig brechen sie nicht so schnell mit “ihren” Parteien, v.a. wenn sie in diesen schon seit Jahren organisiert sind. Für revolutionäre KommunistInnen ist es daher vordringlich, Einheitsfronttaktiken zu entwickeln (Forderungen an die reformistischen Parteiführungen zu stellen, die Bildung linker inner-parteilicher Oppositionen zu unterstützen, gemeinsame Aktivitäten zu suchen etc.), um so mit reformistischen ArbeiterInnen zusammenzuarbeiten und sie letztlich von den Bürokratien wegzubrechen. Doch genau ein solches Verständnis fehlte dem Großteil der extremen Linken, da sie sich nicht von ihrer kleinbürgerlichen Grundlage trennen konnte.
Dabei hätten für eine solche Politik gute objektive Voraussetzungen bestanden, zeigte sich doch 1968 das Versagen des Reformismus besonders deutlich. Es gab nur minimale wirtschaftliche Zugeständnisse und sogar drastische Verluste bei den Wahlen im Juni. Die StalinistInnen, welche die Revolution wie die Pest hassen, hatten also auch auf ihrem ach so friedlichen, parlamentarischen Weg nichts erreicht, nichts außer einer Niederlage der Massenbewegung und einer Niederlage für sie selbst.

1968 in Österreich


Deutschland brennt - Österreich pennt. Wenn da nicht Wien gewesen wäre, träfe der altbekannte Kalauer über die politische Passivität hierzulande buchstäblich zu. Zu den wesentlichen Auslösern der StudentInnenproteste hier zählte neben den Auswirkungen der Massenuniversität und den internationalen Rahmenbedingungen der Fall Borodajkewicz. Dieser war Professor an der damaligen Hochschule für Welthandel. In seinen Vorlesungen vertrat er antisemitische Ansichten, was bei vielen Studierenden 1965 heftige Proteste hervorrief. Es kam zu Demonstrationen, die seine Abberufung forderten. Beantwortet wurden diese durch Gegendemonstrationen der Burschenschaften für “ihren” Professor.
Im Zuge der Auseinandersetzung kam es zu Gewalttätigkeiten, die schließlich das erste Todesopfer in einer innenpolitischen Auseinandersetzung seit 1945 forderten. Ernst Kirchweger - ein alter Antifaschist und ehemaliger Widerstandskämpfer - wurde vom bekannten Neonazi Günter Kümel tödlich verletzt. Borodajkewicz wurde zwangspensioniert. Bei vielen Studierenden hatte dieser Konflikt die mangelhafte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Elterngeneration nachdrücklich in Erinnerung gerufen. Sie sollte zu einem der Kulminationspunkte der 68er-Bewegung werden.
Auch in Österreich versuchten die StudentInnen, sich in den 1960ern mit ArbeiterInnen und deren Kämpfen zu solidarisieren. Anläßlich eines Streiks gegen die Privatisierung der Raxwerke (Waggonfabrik) solidarisierten sich Studierende aus der Sozialdemokratie mit den Streikenden. Zu wirklichen Kontakten oder gar Zusammenarbeit kam es hingegen nicht. Ein zweiter Versuch wurde 1968 gestartet, als eine Solidaritätsaktion gegen Entlassungen bei der verstaatlichen Wiener Lokomotivfabrik organisiert wurde - wiederum vom Verband Sozialistischer StudentInnen Österreichs (VSStÖ).
Diese beiden Versuche - so erfolglos sie auch blieben - erregten aber den Unmut der SPÖ. Es kam zu massiven Konflikten zwischen Parteiführung und ihrer StudentInnenorganisation, die ihren Höhepunkt am 30.4.68 fanden. Anläßlich des traditionellen Fackelzuges der Wiener SPÖ am Vorabend des 1.Mai attackierten Mitglieder der SP-Jugendorganisationen ihre Parteispitze mit dem Ruf “Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!” Der Eklat war unvermeidlich. Für den nächsten Tag hatte der VSStÖ eine Parallelkundgebung zum Maiaufmarsch der SPÖ organisiert, die im Gegensatz zur Volksvergnügung auf der offiziellen Kundgebung, politische Forderungen à la “Arbeiter - Studenten - Solidarität” stellte. Das war der SPÖ natürlich zu radikal, und auf Geheiß des damaligen Wiener Bürgermeisters Marek wurde die Gegenkundgebung schließlich gewaltsam von der Polizei aufgelöst.
Außerdem gab es noch eine Reihe von politischen Aktionen und Demonstrationen zum Vietnamkrieg und universitätspolitischen Themen, einige wenige Aktionen gegen das persische Regime. Im Vergleich zu den Massenbewegungen in anderen Ländern war der Protest in Österreich allerdings höchstens lauwarm, die meisten AktivistInnen entpolitisierten sich aufgrund der mangelnden politischen Orientierung der Bewegung ebenso schnell wieder, wie sie sich “politisiert” hatten.

Übergangsprogramm


Weiters wäre es die Aufgabe von RevolutionärInnen in diesen Wochen des Generalstreiks gewesen, die Kluft zwischen den berechtigten Forderungen der ArbeiterInnen nach höheren Löhnen, besseren Arbeitsbedingungen, Arbeitszeitverkürzung und mehr Demokratie einerseits und der Notwendigkeit des Sturzes der kapitalistischen Klassenherrschaft andererseits zu überbrücken. Diese Brücke hätte in einer Reihe von Übergangsforderungen bestehen müssen, welche die Macht der Bourgeoisie auf wirtschaftlicher, politischer und militärischer Ebene in Frage stellen. Insbesondere hätten die vorhandenen Tendenzen der betrieblichen Doppelmacht zur ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion weiterentwickelt werden können. Ebenso hätte die Forderung nach einer ArbeiterInnenregierung erhoben werden müssen, ohne dabei gleichzeitig darauf zu verzichten, immer wieder den Unwillen der ReformistInnen, um die gesellschaftliche Macht zu kämpfen, bloßzustellen. Ein solches Programm, welches unmittelbare demokratische, wirtschaftliche und soziale sowie Übergangsforderungen verbindet, hätte die französische ArbeiterInnenklasse und die radikalisierten StudentInnen in die Lage versetzt, den Kapitalismus zu besiegen.
Klarerweise kann dieses Beispiel nicht beliebig auf andere Länder übertragen werden. Die Situation in Frankreich im Mai 1968 war eine ganz spezifische, gekennzeichnet insbesondere durch die massenhafte Beteiligung der ArbeiterInnen und deren radikale Formen des Kampfes. Aber auch in anderen Ländern, wie z.B. Italien 1969, Portugal 1974, Argentinien 1969 wäre eine solche Vorgangsweise erfolgversprechend gewesen. Natürlich ist das von der jeweils bestehenden historischen Situation abhängig, aber die generelle Stoßrichtung behält in all diesen Fällen ihre Gültigkeit.
Die Massenbewegungen der 1960er boten also in vielen Ländern eine Chance. Eine Chance, die vergeben wurde, da erstens die AktivistInnen und die Führung der Bewegungen über keine korrekte politische Orientierung verfügten und sie zweitens durch die Politik der reformistischen Parteien verraten wurden. Neue Krisen wie 1968 kommen ohne Zweifel wieder, da sie in der Natur des krisenhaften Kapitalismus liegen. Bereits in den letzten Jahren sahen wir in Europa oder auch Ostasien mächtige Klassenkampfbewegungen. Die bevorstehenden scharfen Attacken der herrschenden Klasse, die politische und ideologische Krise ihres Systems und der Lernprozeß in all diesen Kämpfen schaffen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten günstige Voraussetzungen für eine revolutionäre Entwicklung. Doch diesmal müssen RevolutionärInnen besser vorbereitet sein als 1968. Sie brauchen ein klares Programm, basierend auf den Lehren der revolutionären Krisen dieses Jahrhunderts (inklusive jener von 1968). Und sie bedürfen des organisatorischen Instrumentariums, um ein solches Programm in schlagkräftige Aktionen und Propaganda umsetzen zu können - eine echte ArbeiterInnenpartei! Gehen wir es gemeinsam an!

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