Gerade Fragen der Verfassung sind immer auch zutiefst politische Fragen. Daher gibt es wohl kaum eine Rechtsmaterie, bei der sich Recht und Gerechtigkeit mehr vermischen als bei der Auslegung der Verfassung. Fakt ist: Es gibt keine absolut richtige Auslegung des Rechts. Sonst würde es keine jahrzehntelangen Rechtsstreitigkeiten geben und Gerichte oder auch Kommentator*innen diverser Gesetze einander gegenseitig widersprechen. Jede Rechtsauslegung ist also immer auch politisch.
Zur Geschichte einer Losung
Halten wir zunächst einmal fest, dass die zumeist verwendete Formulierung „From the River to the Sea“ ursprünglich von jüdischen Linken im Palästina vor der Wende zum vorletzten Jahrhundert, also lange bevor es den Staat Israel gab, als Losung gegen die Kolonialherrschaft des damals noch bestehenden osmanischen Reiches entwickelt wurde. Die Bedeutung dieser Losung war damals – und so wird sie noch heute von zahlreichen linken Kräften in der Tradition der nicht-reformistischen Arbeiter*innenbewegung verwendet, die Forderung nach einem von jeglicher Kolonialherrschaft unabhängigen Palästina für alle, die dort leben. Zu dieser Zeit also großteils Menschen, die heutzutage als arabisch gelesen werden. Oft wird diese Losung auch mit der Forderung nach einem sozialistischen Palästina, teilweise im Rahmen einer Föderation sozialistischer Staaten des Nahen Ostens, verbunden.
Gleichzeitig muss zugegeben werden, dass diese Losung im Verlauf der Zeit von verschiedensten politischen Kräften verwendet und mit unterschiedlichen Inhalten besetzt wurde. Sie findet sich z.B. auch im Gründungsprogramm des Likud und wird heute von zwei rechtsradikalen israelischen Ministern (Smotrich und Ben Gvir) immer wieder verwendet, welche damit die Vertreibung aller von ihnen als nicht-jüdisch definierten Menschen meinen, was eindeutig im Widerspruch zur ursprünglichen Losung steht, die keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher Religion kannte und alle, die in dieser Region (und dem späteren britischen Mandatsgebiet) lebten als Palästinenser*innen sah.
Auch der Verfassungsgerichtshof selbst stellt in der Urteilsbegründung fest, dass „die Parole 'Free Palestine from the River to the Sea' unterschiedliche Bedeutungen haben“ kann, verweist dann aber als einzig konkretes Beispiel auf jene, welche ihr von der Hamas gegeben wird, was zumindest den Anschein eines politischen Urteils erweckt, da der Frage, welche Bedeutung der inkriminierten Losung von den Veranstalter*innen der geplanten Mahnwache verwendet worden wäre, noch nicht einmal nachgegangen wird. Rechtspolitisch könnte dem Spruch also Einseitigkeit und eine mangelhafte Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Inhalt der geplanten Veranstaltung unterstellt werden.
Juristische Feinheiten
Die Feststellung, dass der Veranstaltungszweck Strafgesetzen – Gutheißung von terroristischen Straftaten (§ 282a StGB) und Verhetzung (§ 283 StGB) – widersprochen hätte, ist eine sog. Prognoseentscheidung. Solche sind grundsätzlich problematisch, da sie immer auf Annahmen beruhen, welche meiner Meinung nach von der untersagenden Behörde nicht ausreichend begründet wurden. Im Vorhinein kann grundsätzlich niemand wissen, ob eine strafbare Handlung gesetzt werden wird. Das ist genau das, von dem jene träumen, die präventive Strafe als Lösung für gesellschaftliche Probleme sehen. Was dabei herauskommt, kann in diversen dystopischen Sciencefiction-Filmen nachgesehen werden.
Weiters spricht der Verfassungsgerichtshof in seiner Presseaussendung unter https://www.vfgh.gv.at/medien/Versammlungsverbot.de.php im Gegensatz zur eigentlichen Entscheidung von einem „Verbot“ der Kundgebung. Allerdings kennt das österreichische Versammlungsrecht keine Verbote. Ebenso wenig wie es übrigens erlaubte Versammlungen gibt. Eine Versammlung, egal in welcher Form, muss bei der zuständigen Polizeibehörde angezeigt werden. Erhebt die Behörde keinen Einspruch, kann die Versammlung in der angezeigten Form durchgeführt werden. Die Behörde hat nur die Möglichkeit, eine angezeigte Versammlung mit Begründung zu untersagen oder mit den Veranstalter*innen über eine Abänderung z.B. der Demoroute in Gespräche zu treten.
Mögliche Konsequenzen
Offensichtlich handelt es sich bei diesem Spruch des Verfassungsgerichtshofes um die Beurteilung eines Einzelfalls. Allerdings würde ich keine Wette darauf annehmen, dass diverse Behörden, diesen nicht dahingehend interpretieren werden, dass Kundgebungen, zu denen mit der genannten oder ähnlichen Formulierungen aufgerufen wird, künftig untersagt werden können, ohne auch nur genauer hinzusehen. Schließlich ist ja auch der Verfassungsgerichtshof selbst dem genauen Gehalt der gewählten Formulierung nicht auf den Grund gegangen.
Übereifrige Einsatzleiter*innen könnten auch der Meinung sein, dass die Verwendung der Losung auf Versammlungen wie Demos ein hinreichender Grund wäre, diese aufzulösen. Schließlich wird es gerade während z.B. einer Demo kaum möglich sein, herauszufinden, welchen Gehalt jene dieser Losung geben, die diese rufen.
Selbstverständlich müsste eine solch weite Interpretation dieser Losung konsequenterweise auch dazu führen, dass deren Verwendung ebenso rechtliche Konsequenzen nach sich zieht, wenn sie von der anderen Seite verwendet wird. Sollten also z.B. Anhänger*innen des Likud oder der beiden bereits genannten israelischen Minister diese bei der Anmeldung einer Versammlung in Österreich verwenden, müsste diese ebenso untersagt werden.
Das wird allerdings jenen nicht helfen, deren Recht auf freie Meinungsäußerung bereits beschränkt wurde. Schließlich nutzt auch die nachträgliche Verurteilung behördlicher Maßnahmen durch eine höhere Instanz rein gar nichts, wenn deswegen eine Versammlung nicht stattfinden konnte oder aufgelöst wurde. Sie konnte nämlich nicht wie geplant stattfinden. Das ist es, was zählt.
Hart zusammengefasst bleibt übrig: Auf Basis der Urteilsbegründung werden alle in einen Topf geworfen, unabhängig davon mit welchen Motiven sie die konkrete Losung verwenden, was sie mit deren Verwendung erreichen wollen und welche Ziele sie damit verfolgen. Besonders hart ist das für jene, deren Ziel ein friedliches Zusammenleben aller Menschen „from the River to the Sea“ (also die ursprüngliche Bedeutung der Losung) ist, während jene, die diese Losung auf beiden Seiten mit einem reaktionären Inhalt (zumeist Massenvertreibung sowie seit dem 7. Oktober 2023 individueller Terror und Genozid) füllen, der ohne Wenn und Aber abzulehnen ist, ihre menschenverachtende Propaganda ungehindert weiterführen können. Denn dazu braucht es keine bestimmte Formulierung.
 
 
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen