Mittwoch, 25. Mai 2011

Tunis, Kario, Bengasi, Madrid – die Bewegung der Massen erreicht Europa

Spanien steckt in seiner tiefsten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise seit Jahrzehnten. Diese geht einher mit hohen Staatsschulden und der höchsten Arbeitslosenrate in der EU. 4,9 Millionen Menschen sind derzeit auf Jobsuche. Die damit verbundene Unzufriedenheit spiegelt sich in der Skepsis gegenüber dem herrschenden System und seinen politischen Parteien wider.

Die sozialdemokratische PSOE hat als Regierungspartei die Aufgabe übernommen, die Krise im Sinne des Kapitals zu verwalten und sich völlig den Interessen der Wirtschaft unterworfen. In der europäischen Sozialdemokratie gilt der spanische Premier Zapatero gar als Linker, doch nun versucht er, die Kosten der Krise auf die ArbeiterInnen, die Jugend, die Alten, die Kranken und die Arbeitslosen abzuwälzen.
In Katalonien provozierte die neue bürgerliche Regionalregierung mit ihrem massiven Sparpaket im Bildungs- und Gesundheitssystem vor Kurzem eine Welle von wilden Streiks; die Gewerkschaften riefen zu einer Demonstration in Barcelona auf, an der sich 200.000 Menschen beteiligten. Angesichts dieser Situation erwarten sich die Lohnabhängigen von den Gewerkschaften eine Antwort auf die Krise.
Unter dem Druck der eigenen Basis haben die großen spanischen Gewerkschaftsdachverbände UGT und CCOO am 29. September 2010 zu einem Generalstreik aufgerufen. Doch die Gewerkschaftsführung glaubte noch immer, auf dem Verhandlungsweg etwas erreichen zu können. Sie hat kein Gespür für die Stimmung unter ArbeiterInnen und in der Jugend. Die Zustimmung zur Pensionsreform nach diesem Streik führte zu einer enormen Frustration unter den Mitgliedern. In einem Fernsehinterview formulierte es eine von den heutigen DemonstrantInnen so: "All das passiert, weil die Gewerkschaften nicht das gemacht haben, was sie machen hätten müssen."
Unter Jugendlichen, die die Krise am stärksten zu spüren bekommen, ist diese Stimmung natürlich besonders ausgeprägt. Viele Uni-AbsolventInnen finden keinen Job und müssen prekäre Arbeitsverhältnisse und niedrige Löhne akzeptieren. Diese Situation unterscheidet sich nicht so sehr von jener in Tunesien, Ägypten usw. Spanien ist aber kein verarmtes Land, sondern eine reiche Volkswirtschaft in Europa.
Am 15. Mai kam es nun auch auf der iberischen Halbinsel zur sozialen Explosion. 150.000 Menschen demonstrierten an diesem Tag in über 40 Städten unter dem Motto "Democracia Real Ya" (Echte Demokratie jetzt). Von Anfang an herrschte auf diesen Demonstrationen eine kämpferische Grundstimmung vor. Einer der Slogans der DemonstrantInnen war: "Wir sind keine Waren in den Händen von BankerInnen und PolitikerInnen".
Es ist offensichtlich, dass die arabische Revolution vielen, die in dieser Bewegung aktiv sind, als Vorbild dient. Die Idee, Protestcamps auf zentralen Plätzen zu organisieren, wurde vom Tahrir Platz in Kairo übernommen. In Anbetracht dessen, dass niemand aus der organisierten ArbeiterInnenbewegung ihre Interessen wirklich vertritt, sind die Massen jetzt selbst und spontan aufgestanden. Sie sind dabei eine Massenbewegung aufzubauen. In ihrem Manifest formuliert diese Bewegung daher auch: "Es ist an der Zeit, Dinge zu verändern. Zeit, miteinander eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Deswegen treten wir eindringlich hierfür ein:
  • Gleichheit, Fortschritt, Solidarität, kulturelle Freiheit, Nachhaltigkeit und Entwicklung, sowie das Wohl und Glück der Menschen müssen als Prioritäten einer jeden modernen Gesellschaft gelten.
  • Es gibt Grundrechte, die unsere Gesellschaft gewähren muss: das Recht auf Wohnung, Arbeit, Kultur, Gesundheit, Bildung, politische Teilhabe, freie persönliche Entwicklung und das Recht auf Konsum von Gütern, die notwendig sind um ein gesundes und glückliches Leben zu führen. ...
In ihrem momentanen Zustand sorgen unsere Regierung und das Wirtschaftssystem nicht für diese Prioritäten, sondern stellen sogar auf vielerlei Weise ein Hindernis für menschlichen Fortschritt dar. ...
  • Die Gier nach Macht und deren Beschränkung auf einige wenige Menschen bringt Ungleichheit, Spannung und Ungerechtigkeit mit sich, ... Das veraltete und unnatürliche Wirtschaftsmodell treibt die gesellschaftliche Maschinerie an, einer immerfort wachsenden Spirale gleich, die sich selbst vernichtet indem sie nur wenigen Menschen Reichtum bringt und den Rest in Armut stürzt. Bis zum völligen Kollaps.
  • Ziel und Absicht des derzeitigen Systems ist die Anhäufung von Geld, ohne dabei auf Wirtschaftlichkeit oder den Wohlstand der Gesellschaft zu achten. Ressourcen werden verschwendet, der Planet wird zerstört und Arbeitslosigkeit sowie Unzufriedenheit ... entsteht.
  • Die BürgerInnen bilden das Getriebe dieser Maschinerie, welche nur dazu entwickelt wurde, um einer Minderheit zu Reichtum zu verhelfen, die sich nicht um unsere Bedürfnisse kümmert. Wir sind anonym, doch ohne uns würde dergleichen nicht existieren können, denn am Ende bewegen wir die Welt.
  • Wenn wir es als Gesellschaft lernen, unsere Zukunft nicht mehr einem abstrakten Wirtschaftssystem anzuvertrauen, das den meisten ohnehin keine Vorteile erbringt, können wir den Missbrauch abschaffen, unter dem wir alle leiden."
Mit vielen dieser Forderungen und Ziele stellen sich die DemonstrantInnen gegen den Kapitalismus selbst, denn manche davon sind in dessen Rahmen nicht zu verwirklichen. Viele in der Massenbewegung haben das auch schon verstanden. Dies zeigte sich auch bei der Demonstration in Madrid am 17. Mai gegen die brutale Räumung des Protestcamps, auf welcher folgende Slogans im Mittelpunkt standen: "Es ist nicht die Krise, es ist das System", "Die Revolution hat begonnen", "Sie nennen es Demokratie, aber das ist es nicht" oder "Das vereinte Volk wird nie besiegt werden".
Das von der Wahlkommission verhängte Demonstrationsverbot während der Regional- und Kommunalwahlen stellte eine direkte Herausforderung der Bewegung dar. Doch diese Repression hat die Proteste nur noch weiter radikalisiert und ausgeweitet. Im ganzen Land wurden Protestcamps gebildet, die Demonstrationen werden selbst in den Provinzstädten größer. Das Demonstrationsverbot wurde einfach ignoriert, was deutlich zeigt, dass die Macht der Beschäftigten und Jugendlichen unbesiegbar ist, wenn sie sich zusammenschließen.
Mit Spanien hat die immer weitere Kreise ziehende Protestbewegung gegen das herrschende System und seine RepräsentantInnen nun auch Europa erreicht. Und diese Bewegung wird sicherlich nicht in Spanien halt machen.

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