Freitag, 3. Juni 2011

Die Perspektiven der Bewegung in Spanien

Seit etwa zwei Wochen dauern nun die Besetzungen der Puerta del Sol in Madrid, der Plaça de Catalunya in Barcelona und anderer Plätze in Städten überall in Spanien an. Nach dem Versuch, die Menschen in der ersten Nacht ihrer Proteste zu vertreiben, und der Verordnung der Wahlkommission, die besetzten Orte vor den Lokal- und Regionalwahlen am 22. Mai 2011 zu räumen, fehlte den Behörden das Selbstbewusstsein, diese Verordnung mit Gewalt durchzusetzen. Die Besetzung in Madrid, an der sich bis zu 28.000 Protestierende beteiligen, hat die Aufmerksamkeit ganz Europas und anderer Teile der Welt. Zehntausende Jugendliche, Arbeitslose, GewerkschafterInnen und PensionistInnen kämpfen hier gegen Jugendarbeitslosigkeit und die Auswirkungen der Sparmaßnahmen der Regierung.

Mit einer Arbeitslosenrate von 21,3% (bei Jugendlichen über 42%) liegt Spanien an der Spitze der EU-Länder. Jene jungen Menschen, die Arbeit haben, schlagen sich mit prekären Niedriglohn- und Teilzeitjobs durch. Sogar der Internationale Währungsfonds, dessen Politik Arbeitslosigkeit und Niedriglöhne verursacht, hat die heutige Jugend in Spanien als " verlorene Generation" bezeichnet. Nachdem niemand auf ihrer Seite steht, haben diese jungen Leute jetzt selbst ihre Stimme ehroben. Selbstbewusst nach dem Vorbild der Massenbesetzung des Tahrir Platzes in Kairo organisiert, zeigen die Protestierenden ihre Desillusionierung über die herrschende Politik, die Banken rettete und gleichzeitig von den Massen verlangte, den Gürtel enger zu schnallen.
Die Regierung plant, der spanischen Bevölkerung 15 Milliarden Euro an Sparmaßnahmen und einen Stellenabbau im staatlichen Dienst von bis zu 15 Prozent aufzuzwingen. Sie will das Pensionsantrittsalter von 65 auf 67 Jahre anheben und den Arbeitsmarkt noch weiter liberalisieren, indem Kündigungsschutz und andere Arbeitsrechte erneut gelockert werden. Von den Regionalregierungen werden große Einschnitte bei Bildung und Gesundheit erzwungen; in Katalonien bedeutet das z.B. Budgetkürzungen von 10 Prozent.

Jugend erhebt sich


Die Besetzungen haben großen Rückhalt in der Bevölkerung. Das zeigte z.B. der 18. Mai, als 130.000 Menschen in rund 60 Städten demonstrierten. Die Proteste, "Bewegung 15-M" (nach dem 15. Mai – dem Tag ihres Beginns) oder "spanische Revolution" genannt, haben als Hauptlosung "Echte Demokratie jetzt! (Democracia real YA)". Sie wurden von Antiglobalisierungsgruppen und Nichtregierungsorganisationen wie Attac, Intermon, Oxfam oder Juventud Sin Futuro (Jugend ohne Zukunft) initiiert. Über Twitter und Facebook schickten sie einen Aufruf an die "Arbeitslosen, schlecht Bezahlten, LeiharbeiterInnen, jene, die unsichere Jobs haben und die jungen Leute", am 15. Mai die Hauptplätze ihrer jeweiligen Städte und Orte zu besetzen. Die Jugendlichen folgten dem Aufruf in Massen – sie nennen sich Los Indignados, die Empörten.
Die Feindseligkeit der DemonstrantInnen gegenüber der Regierung ist vollkommen verständlich, da diese soziale Kürzungen durchzieht, welche die bereits jetzt elenden Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen und der Jugend noch unerträglicher machen werden. Leider haben auch die großen Gewerkschaften – der Sindicato Unión General de Trabajadores (UGT) und die Confederación Sindical de las Comisiones Obreras (CCOO) – den Jugendlichen, für deren Sache sie bisher nicht aktiv gekämpft haben, kaum eine Lösung ihrer Probleme anzubieten. Obwohl die CCOO und die UGT am 29. September 2010 einen Generalstreik gegen die Sparpläne der Regierung durchführten, war dieser leider nicht der Auftakt zu einer längeren Massenkampagne. Im neuen Jahr drohten die Gewerkschaften erneut, einen eintägigen Generalstreik auszurufen, aber statt Kampfmaßnahmen durchzuführen, traten sie in Verhandlungen mit der Regierung und den UnternehmerInnenverbänden ein. Herausgekommen ist ein Abkommen über Reformen im Renten- und Lohnsystem sowie am Arbeitsmarkt. Gleichzeitig waren lokale Gewerkschaften in einigen Städten (z.B. Barcelona) immer schon aktiv für die Probleme der Jugendlichen und sind jetzt dort auch Teil der Protestbewegung.
Trotzdem gibt es politische Unterschiede. Im Gegensatz zu den meisten Gewerkschaften verurteilt das Manifest der Puerto del Sol das bestehenden System, auch wenn es dieses leider nicht beim Namen nennt. Darin werden z.B. auch die rassistischen Einwanderungsgesetze abgelehnt, ein Grundrecht auf Wohnen, Gesundheitsversorgung und Bildung, sowie die Wiederverstaatlichung von kürzlich privatisierten öffentlichen Unternehmen gefordert.
Viele andere Forderungen bleiben vage. Insbes. fehlt aber oft eine Strategie zu ihrer Durchsetzung. So werden weder die Kürzungsmaßnahmen komplett abgelehnt, noch wird die Forderung nach Besteuerung der Reichen oder der Verstaatlichung der Banken erhoben. Nach Jahrzehnten der kapitalistischen Propaganda vom "Endsieg dieses Systems" darf das aber auch nicht verwundern. Die Massenbewegung muss sich alles, was in dieser Zeit an Klassenbewusstsein verloren gegangen ist, erst mühsam wieder erarbeiten. Sich mühsam vorantastend wird dabei aber wie immer in lebendigen Klassenkämpfen das Bewusstsein in Sprüngen voran entwickelt und beim nächsten Ausbruch von Massenprotesten von einem viel höheren Niveau ausgehen.

Perspektiven


Leider fehlt in Spanien auch eine Linke, welche der Bewegung eine auf den Sturz des Kapitalismus gerichtete Orientierung geben könnte. Die Bewegung muss sich eine solche erst selbst mühsam erarbeiten. Erste positive Anzeichen dafür gibt es aber bereits. So kam es nach dem Beschluss zur Fortsetzung der Proteste z.B. am 28.5. in Madrid, aber auch in anderen Städten, zu Vorversammlungen auf Stadtteilebene, v. a. auch in den Elendsvierteln (Barrios), wo der Anteil von EinwandererInnen und prekarisierten ArbeiterInnen besonders hoch ist. Hier wurden demokratisch die Delegierten für die Vollversammlungen gewählt, wodurch eine erste Verbindung der Bewegung der Jugend zur ArbeiterInnenklasse geschaffen wurde.
Im Gegensatz zu den erfolgreichen Revolutionen in Ägypten und Tunesien wird der Ruf nach echter Demokratie in einem Land mit tatsächlichen parlamentarischen Wahlen aber nicht ausreichen, um die Bewegung zum Erfolg zu führen. Vielmehr müsste diese Forderung konkretisiert werden (z.B. in Richtung jederzeitiger Abwählbarkeit der Abgeordneten und eines ArbeiterInnenlohnes für diese) und mit dem Ruf nach einem Sturz der Diktatur des Kapitals verbunden werden, welche hinter der Fassade des Parlaments tatsächlich regiert.
Mit der richtigen Strategie, welche die arbeitenden Menschen einbezieht, und einem entschlossenen Kampf kann das Kürzungsprogramm der Regierung gestoppt werden. Dazu bedarf es aber mehr als nur der Besetzung von Plätzen. Auch in Ägypten haben erst Massenstreiks zum Erfolg geführt. In Spanien wird es dazu wohl eines unbefristeten Generalstreiks bedürfen. Ein solcher aber kann zu zuvor unverhofften Ergebnissen führen, wie das Jahr 1968 in Frankreich deutlich gezeigt hat, als der Kapitalismus nach StudentInnenprotesten und einem Generalstreik plötzlich am Rande des Abgrunds stand. Ein solcher aber kann nicht erfolgreich geführt werden, ohne dass die lokalen Proteste national koordiniert werden, auch das hat 1968 gezeigt. Trotzdem sind die Proteste in Spanien schon jetzt für viele zur Inspiration geworden. Sie zeigen nämlich sehr klar, dass wir uns gegen die kapitalistische Kürzungspolitik wehren können und nicht kampflos alles schlucken müssen.

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