Montag, 16. Oktober 2017

Die Nationalratswahlen 2017 und ihre Folgen

Statistische Analysen auf Basis der klassischen Indikatoren der bürgerlichen Wahlforschung gibt es schon genug. Auch wenn es zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Textes noch kein endgültiges Wahlergebnis gibt, lassen sich doch bereits jetzt einige Schlussfolgerungen auf Basis der großen Trends der heutigen Zeit ablesen, die die nächsten Jahre politisch bestimmen werden. Klar ist in jedem Fall, wie das untenstehende Bild zeigt: Wahlverhalten ist immer auch eine Frage des Vermögens!

Dabei muss uns aber bewusst sein, dass Wahlen immer nur eine Momentaufnahme des Kräftegleichgewichts in einer Gesellschaft sind. Wie schnell sich dieses ändern kann, zeigt gerade Frankreich, wo Macron die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen mit überwältigenden Mehrheiten gewinnen konnte, während er bei den jüngsten Senatswahlen massiv verlor. Mittlerweile ist er unbeliebter als seine Amtsvorgänger und das innerhalb von nicht einmal einem halben Jahr!

Die Linke


Wie ein grober Überblick zeigt, hat sich das Kräftegleichgewicht zwischen den beiden gesellschaftlichen Hauptklassen vorläufig so stark wie seit den Jahren 1934-1945 nicht mehr zugunsten des Kapitals verschoben. Die bürgerlichen Parteien haben zusammen über 70% erreicht, die drei linken Kandidaturen (SPÖ, KPÖ, SLP) keine 30%.

In diesem Zusammenhang muss auch die Frage gestellt werden, was linke Klein(st)kandidaturen bringen? Das Projekt KPÖ+ hatte ein eindeutiges Minus zur Folge. Ca. ein Drittel der Stimmen der KPÖ von der letzten Nationalratswahl gingen verloren. Das liegt nicht etwa am mangelnden Engagement der AktivistInnen oder am Programm (das ein mehr oder weniger halbwegs linkes sozialdemokratisches ist), sondern schlicht und einfach an der fehlenden Verankerung in der ArbeiterInnenklasse.

Es ist eine in der österreichischen Linken seit langem gehegte Illusion, dass eine solche bei Wahlen erreicht werden kann. Tatsächlich vertrauen die arbeitenden Menschen eher jenen Kräften der Linken, die sie in ihren alltäglichen Kämpfen als Unterstützung erleben. Und das ist in vielen Betrieben trotz all ihrer Schwächen nach wie vor die FSG. Ohne diese wäre die SPÖ wahrscheinlich zertrümmert worden.

Gleichzeitig soll hier die für österreichische Verhältnisse recht kämpferische Arbeit der SJ im Zuge des Wahlkampfes nicht unterschätzt werden. Auch wenn diese zahlenmäßig sicher nicht an das herankommt, was BetriebsrätInnen und GewerkschafterInnen erreichen können, war sie doch auf ideologischer Ebene vorbildlich. Sie hat gezeigt, was es heißt, einen Schritt vor dem Bewusstsein der Massen (der Jugend) zu sein, ohne den Fehler zu begehen, in den Linksradikalismus abzugleiten wie viele sich selbst als links bezeichnende Gruppierungen.

Letztlich kann eine Verankerung in der ArbeiterInnenklasse nur durch die alltägliche Arbeit mit den arbeitenden Menschen, der Jugend und den PensionistInnen erzielt werden. Egal wie unwichtig das Thema erscheint: Wer nicht jeden einzelnen Tag auf ihrer Seite steht, wird ihr Vertrauen auch bei Wahlen nicht gewinnen können!

In letzter Konsequenz sind linke Klein(st)kandidaturen daher eine Verschwendung der Zeit und Energie von oft enorm engagierten AktivistInnen, die in sozialen Bewegungen besser eingesetzt werden kann. Wer die Verantwortung für solche Kandidaturen träge, ist daher gleichezeitig für die Schwächung von Protestbewegungen verantwortlich.

Die SPÖ


Hier soll aber auch nicht verhehlt werden, dass das Ergebnis der Sozialdemokratie von enormen Widersprüchen geprägt ist. Während in jenen Bundesländern (Wien, Tirol, Vorarlberg), wo eine ansatzweise traditionelle Linie gefahren wurde, beachtliche Zuwächse zu Buche standen, kam es in jenen Bundesländern, die offensichtlich bereit sind, sich für den Machterhalt mit dem Teufel ins Bett zu legen, (Kärnten, Burgenland) zu massiven Verlusten. Die angebliche Entzauberung der Blauen durch eine Koalition hat etwa im Burgenland zu einem satten Minus von 5% für die SPÖ und einem Plus von etwa 8% für die FPÖ geführt.

Ein Liebäugeln mit den Blauen ist aber zuallererst nicht aus wahltaktischen Gründen ein schwerer Fehler. Es ist schlicht und einfach mit wesentlichen Grundprinzipien der Sozialdemokratie unvereinbar. Die FPÖ steht uns in Fragen des Internationalismus, der Solidarität und eines egalitären Menschenbildes diametral gegenüber. Allein schon deswegen muss jede politische Zusammenarbeit mit dieser aus Prinzip abgelehnt werden. Wer das nicht versteht, hat von A bis Z keine Ahnung, was Sozialdemokratie bedeutet.

Wozu ein Abgehen von dieser Position führt, zeigen aber auch die überaus unterschiedlichen Wahlergebnisse in Wien. Während die SPÖ in 18 Bezirken dazu gewinnen konnte, verlor sie in den sog. Flächenbezirken, denen immer wieder nachgesagt wird, dass sie mit den Blauen liebäugeln. Auch wenn das zum Teil nur von den Medien herbeigeschrieben wird, so ist es doch im Bewusstsein der Massen ein Faktor. Tatsächlich gibt es außer Simmering keinen einzigen Bezirk, der sich offen für eine Koalition mit der FPÖ ausspricht. In Favoriten, Floridsdorf, Donaustadt und Liesing gibt es unbestreitbar einzelne bekannte Persönlichkeiten bzw. Teile der Partei, die dafür eintreten, die Bezirksparteien in ihrer Gesamtheit sind es aber mit Sicherheit nicht.

Das zeigt z.B. Floridsdorf, wo gerade erst am letzten Bezirksparteitag ein Antrag gegen Koalitionen mit der FPÖ mit großer Mehrheit angenommen wurde. In negatives Erstaunen versetzte dabei, dass die JG geschlossen gegen diesen Antrag stimmte, was in letzter Konsequenz nur ein Zeichen dafür ist, dass diese Frage in den genannten Bezirken nach wie vor umkämpft ist. Unser Fehler als Wiener SPÖ mag es sein, dass wir das nicht klargestellt haben, sondern die bürgerlichen Massenmedien ihr Märchen von den blau-affinen Flächenbezirken weiterspinnen lassen haben.

Jedenfalls ist die Schlussfolgerung aus den Wahlergebnissen in diesem Zusammenhang mehr als eindeutig: Wer mit den Blauen liebäugelt oder gar paktiert, verliert!

Die Grünen


Viele sind gerade überaus erstaunt oder gar erschrocken, dass die Grünen aus dem Parlament fliegen oder zumindest enorm geschwächt aus den Wahlen hervorgehen werden. Die meisten schrieben das der eigenständigen Kandidatur von Pilz zu. Nichts könnte falscher sein!

Tatsächlich gibt es für das Wahlergebnis der Grünen langfristige tieferliegende Ursachen. Nach dem zweiten Weltkrieg ist es in Europa zu einer absoluten historischen Ausnahmephase gekommen. Ein Vierteljahrhundert nahezu krisenfreien wirtschaftlichen Aufschwungs hat zu einer enormen Verbesserung des Lebensstandards der breiten Masse geführt. In der Folge verlagerten sich viele politische Kämpfe weg von der sozialen Frage hin zu dem, was die Wissenschaft als postmaterialistische Werte bezeichnet. Die daraus entstandenen neuen sozialen Bewegungen fanden ab dem Ende der 1970er ihren organisatorischen Ausdruck in den neu entstehenden Alternativen oder Grünen Parteien. Mit der Zeit verdrängten die klassenlosen grünen die alternativen Positionen in den sich bildenden gemeinsamen Parteien nahezu vollständig.

Mit den immer massiver werdenden Krisen in den letzten Jahrzehnten ist aber die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt des Interesses der Arbeitenden gerückt. Damit wurde es wieder notwendig, dass sich Parteien eindeutig auf einer Seite der Klassenscheidelinie positionieren. Wer das nicht tut, ist – so wie gegenwärtig die Grünen – dazu verdammt, in den Geschichtsbüchern zu verschwinden. In ihrer derzeitigen Form haben die Grünen also ihre geschichtliche Berechtigung verloren, da der historische Ausnahmezustand der Mitte, des Kompromisses zwischen den Klassen sein Ende gefunden hat. Sie haben schlich und einfach die Rückkehr des Normalzustandes der Menschheitsgeschichte verschlafen.

Die Zukunft der SPÖ


Im breiteren gesellschaftlichen Zusammenhang ist mit der Wiederkehr der Krise auch das ideologische Konzept der Mitte de facto verschwunden, wenn auch noch nicht aus den Köpfen der PolitikerInnen und vielen arbeitenden Menschen. Tatsache aber ist: Weder sozial noch politisch gibt es eine relevante Mitte. Entweder Kapital oder Arbeit! Entweder oben oder unten! Entweder arm oder reich! Wer das politisch nicht versteht, wird zu einer Randnotiz der Geschichte!

Das ist eine Gefahr, die übrigens auch der Sozialdemokratie droht, was in Ländern wie Griechenland, Italien oder den Niederlanden schon eindrucksvoll bewiesen wurde. In diesen Ländern verkamen die jeweiligen sozialdemokratischen Parteien mit ihrer vom Sachzwang diktierten Politik zu Kleinstparteien.

Wenn wir nicht wollen, dass das auch in Österreich der Fall sein wird, müssen wir dafür sorgen, dass die SPÖ wieder zu einer Partei der arbeitenden Klasse wird. Die Mittelschicht gibt es nicht mehr. In diesem Zusammenhang sind im Wahlkampf auch zentrale Fehler passiert. Der Slogan „Hol dir, was dir zusteht“ bringt den Egozentrismus des Mittelstandsdenkens perfekt zum Ausdruck. Die Sozialdemokratie ist hingegen mit den großen kollektiven Themen entstanden und gewachsen. Hätte es nicht wenigstens „Holen wir uns, was uns zusteht“ heißen müssen? Die großen Themen sind heute die Verfügung über die Arbeits- bzw. Lebenszeit (wie schon zu Beginn unserer Partei), eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums durch Vermögenssteuern und die Verfügungsmacht über die Wirtschaft. All diese Themen sind in unserem Wahlkampf viel zu kurz oder gar nicht vorgekommen.

Aus diesen Fehlern gilt es zu lernen, denn sie sind nicht einfach nur Ausrutscher. Sie sind die Folge davon, dass sich die Sozialdemokratie viel zu weit von ihren Wurzeln entfernt hat. Und von ihrer Basis! Die Sozialdemokratie steht gerade heute vor einer historischen Entscheidung: Pasokisierung und Niedergang oder zurück zu den Wurzeln und Opposition.

Christian Kern hat am Wahlabend eine große Ansage getätigt: Nach der nächsten Wahl werden wir uns hier wieder treffen, um die absolute Mehrheit zu feiern. Illusion? Durchaus nicht! Über 90% der Menschen in diesem Land leben (die arbeitenden Menschen) oder lebten (der Großteil der PensionistInnen) oder werden leben (der Großteil der Jugend) von der Arbeit ihrer Hände und/oder Köpfe. Das ist die gesellschaftliche Basis der Partei. Diese gilt es wieder zu erreichen, dann ist die absolute Mehrheit durchaus drinnen.

Dazu ist aber ein grundlegender Wechsel in der Politik der Sozialdemokratie erforderlich. Wir erreichen diese Menschen nicht mehr, weil wir zu ihrer parlamentarischen Vertretung geworden sind. Wir machen Politik für sie statt mit ihnen. Tatsächlich aber war die Partei in ihrer Geschichte vor allem einmal eine soziale Bewegung – die ArbeiterInnenbewegung. Als diese stark genug geworden war, schuf sie sich als Werkzeug die Partei. Mittlerweile hat sich die Partei über die Bewegung erhoben. Die Bewegung ist kaum mehr existent.

Erst wenn wir es schaffen, die ArbeiterInnenbewegung in all ihrer Vielfältigkeit wiederzubeleben, können wir auch politisch wieder erfolgreich werden. Dazu müssen wir zuallererst und ganz schnell lernen, dass Opposition viel mehr ist als ein paar kritische Reden und Gegenstimmen im Parlament. Opposition ist zuallererst einmal der gemeinsame Kampf mit den Menschen in den Betrieben, Unis und Schulen, in den Wohnvierteln um und für ihre Interessen. Opposition ist prinzipienfest und beugt sich keinen Sachzwängen. Opposition ist auf der Straße in den sozialen Protestbewegungen aktiv. All das ist es, was wir als Sozialdemokratie (mit Ausnahme der SJ, die es ansatzweise beherrscht) ganz schnell wieder lernen müssen.

Zweitens brauchen wir ein zeitgemäßes Programm, das an den Bedürfnissen der breiten Massen anknüpft. Ein solches Programm wird in weiten Teilen viel radikaler sein müssen als alles, was die Partei seit 1926 (dem Linzer Programm) beschlossen hat. Die Labour Party in Britannien macht uns gerade vor, wie das geht.

Einem radikalen Programm muss eine radikale Praxis folgen. Als Partei der arbeitenden Menschen müssen wir damit aufhören, alles durch die staatstragende Brille zu sehen. Es gibt keine gemeinsamen Interessen von allen in Österreich. Die Interessen der Besitzenden und ihrer ManagerInnen werden immer andere sein als die Bedürfnisse der arbeitenden Menschen, der Jugend und der PensionistInnen. Entweder stellen wir uns also ohne Wenn und Aber auf die Seite der arbeitenden Menschen oder wir können es gleich bleiben lassen. Das kann aber nicht bedeuten, dass wir uns dem Bewusstsein der Massen anpassen. Wir müssen ihnen gegenüber unsere eigenen Positionen vertreten und dabei geduldig erklären, warum es notwendig ist, die Macht der Herrschenden herauszufordern, warum wir in letzter Konsequenz für einen Sturz des Kapitalismus stehen.

Konsequenterweise werden wir also endlich zugeben müssen, dass in dieser Gesellschaft ein permanenter Klassenkampf herrscht. Dieser wird seit vielen Jahren von oben gegen uns geführt. Es ist hoch an der Zeit, dass wir endlich damit beginnen, von unten zu antworten. Die Entscheidung über die konkrete Form dieses Kampfes darf nicht dadurch diktiert sein, wie diese in den Medien oder bei den Unternehmen ankommt, sondern muss auf den Erfolg ausgerichtet sein.

Wollen wir dem drohenden Sozialabbau der nächsten Jahre wirklich etwas entgegensetzen, so wird von der kleinen Kundgebung bis hin zum Generalstreik alles erforderlich sein. Wer das nicht akzeptieren kann, soll bitte besser zu Hause bleiben und nicht länger jene lähmen, die verhindern wollen, dass auch die SPÖ schon bald in den Geschichtsbüchern verschwindet.

Und das tut sie unter Garantie, wenn wir unter den gegebenen Bedingungen nicht in Opposition gehen. Nur in dieser wird es möglich sein, zu unseren Wurzeln zurückzufinden.

Als Anleitung dafür kann uns die 91. und letzte Strophe eines Gedichtes dienen, das vor 198 Jahren von Percy Bysshe Shelley verfasst wurde:

Rise like Lions after slumber
In unvanquishable number
Shake your chains to earth like dew
Which in sleep ha’d fallen on you
Ye are many – they are few.


Frei übersetzt (, da die offizielle Übersetzung zwar meine dichterischen Fähigkeiten um Lichtjahre übersteigt, sie aber den kämpferischen Gehalt des Textes verwässert; wer sich dafür interessiert, findet sie hier.):

Erhebt euch wie Löwen nach dem Schlaf
in unermesslicher Zahl.
Werft eure Ketten zu Boden wie Staub,
die im Schlafe euch angelegt wurden.
Wir sind viele – sie ganz wenige!

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