Dienstag, 16. Juli 2024

Rüdiger Baron (1973): Das vietnamesische Lehrstück des kleinbürgerlichen Anti-Imperialismus, in: Probleme des Klassenkampfes 8/9, S. 89-101

Eigentlich habe ich diesen Text nur gelesen, da ich die PROKLA, in der dieser enthalten ist, schon in der Hand hatte. Schließlich hatte sich der Konflikt in und um Vietnam nach 1973 so massiv verändert, dass ein Artikel aus diesem Jahr notwendigerweise am Kern vorbeigehen musste. Trotzdem fand ich diesen dann recht vergnüglich – einerseits wegen der formulierten Kritik an der egoistischen = stalinistischen Außenpolitik der UdSSR und andererseits als Lehrbeispiel für die ideologischen Grabenkämpfe innerhalb der Linken der 1970er.

Mit Grabenkämpfen meine ich dabei gar nichts Negatives. Tatsächlich erscheint mir, dass wir genau heute solche Diskussionen dringend wieder bräuchten, um die dringend notwendige Re-Theoretisierung und Re-Ideologisierung der Organisationen der Arbeiter*innenbewegung auch nur ansatzweise angehen zu können. Schließlich gilt immer: Ohne korrekte Theorie keine korrekte Praxis. Die es wiederum braucht, um zu einer in den realen Kämpfen unserer Klasse fundierten Weiterentwicklung der Theorie zu kommen.

Der eigentliche Inhalt des Textes ist schnell abgehandelt. Im Wesentlichen geht es um die Verhandlungen über die Zukunft Vietnams zwischen den USA und Südvietnam (sowie einigen Staaten Asiens) sowie Nordvietnam bzw. der vietnamesischen nationalen Befreiungsbewegung andererseits, welche letztlich zum Rückzug der USA aus diesem Krieg bzw. letztlich allen seit Jahrzehnten in Indochina tobenden geführt haben. Zentral dabei waren auch heute noch bekannte Politiker wie Nixon und Kissinger.

Erschreckend sind einige Details wie die Tatsache, dass die USA, um den Druck in den Verhandlungen zu erhöhen, die auf ganz Vietnam abgeworfene Bombenlast im Rahmen der massivsten Luftangriffe der Kriegsgeschichte bis dahin innerhalb weniger Tage verzehnfacht haben, was dazu führte, dass die Hälfte der vietnamesischen Bevölkerung vom Land in die Städte flüchtete. So gab es bis zu 1.100 Luftangriffe auf Nordvietnam pro Tag und innerhalb von nur einer Woche wurden fast 220.000 Tonnen Bomben auf Indochina abgeworfen. (vgl. S. 94f)

Wenn wir aktuelle Kriege mit dem vergleichen, was die USA damals aufboten, erscheinen diese geradezu homöopathisch. Ob dieses Ausmaß an Bombardierungen je wieder erreicht werden wird, steht in den Sternen. Möge es auch dort bleiben.

Folglich kontrollierte die nationale Befreiungsbewegung zwar 80% des Landes, auf dem aber nur mehr 20% der Bevölkerung lebten. (vgl. S. 95) Gleichzeitig zogen sich die Großmächte aus einem Krieg, der nicht zu gewinnen war, zurück. Während die UdSSR das tat, weil dieser ihnen außenpolitisch nichts mehr brachte (vgl. S. 96), insbes. das ZK der KPdSU „die imperialistische Aggression in Vietnam für beendet erklärte“ (S. 99) waren die USA letztlich dazu gezwungen, weil die Antikriegsbewegung, die der Autor als „abstrakt-moralisch“ (S. 101) im Gegensatz zu echten Klassenkämpfen qualifiziert …, im Land Ausmaße angenommen hatte, die zur Systemgefährdung hätte werden können.

Zurück blieb ein Land, „dessen Verwüstungen es zu großen Teilen für die Reproduktion des menschlichen Lebens unbrauchbar machen, und ein Volk, das weitgehend aufgrund nackter Existenzbedrohung unfähig ist, an den Auseinandersetzungen um seine politische Zukunft noch aktiv teilzunehmen.“ (S. 97) Warum nur lässt mich dieses Zitat u.a. an Teile der Ukraine und Gaza denken? Dass dann im Süden gleich auch noch fast alle Parteien verboten und die demokratischen Freiheitsrechte aufgehoben wurden (S. 98), was oft mit Kriegen gerechtfertigt wird, wird niemanden weiter wundern.

Dass die Diskussion über den Charakter des Krieges (Volksbefreiungskrieg oder imperialistischer Krieg) für die damalige Linke entscheidend war, mag ob der Dominanz zahlreicher politischer Sekten in dieser nicht weiter verwundern, erscheint aus der heutigen Perspektive aber nahezu pervers. Schließlich ist es den Opfern wohl ziemlich egal, warum sie theoretisch 'korrekt“ abgeschlachtet werden. Das gilt übrigen für jeden Krieg!

Gleichzeitig müssen wir im Rückblick festhalten, dass der Vietnamkrieg ein wesentliches Puzzleteil bei der Entwicklung der sog. Neuen Linken in den imperialistischen Staaten und der Entstehung der sog. Neuen Sozialen Bewegungen war, ohne die es heute möglicherweise kein Klimabewegung gäbe oder zahlreiche positive Entwicklungen für Frauen nicht möglich gewesen wären. Einzig die damalige und spätere Friedensbewegung fehlt traumatisch.

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