In Zeiten, in denen alle nur mehr von „dem Staat“ oder „der Demokratie“ sprechen, wie wenn es sich dabei um absolute Definitionen handeln würde oder es nur eine Form davon geben könnte, ist es meiner Meinung nach hoch an der Zeit, sich wieder mit den Theorien der Arbeiter*innenbewegung dazu zu beschäftigten, die das ein wenig differenzierter sehen.
Dazu müssen wir oft weit zurückgehen, wenn auch nicht immer bis ins vorvorletzte Jahrhundert, was ein dramatischer Beweis für den ideologischen Siegeszug des Neoliberalismus auch im Wissenschaftsbetrieb ist.
Der Staat als solcher ist ja in jeder Klassengesellschaft immer die Voraussetzung der jeweiligen Klassenherrschaft und wird gleichzeitig auch von dieser hervorgebracht. So dient – auch wenn das Kapital im Fall der Gefährdung seines Systems oder massiver Krisen immer wieder zu autoritären Herrschaftsformen bis hin zum Faschismus greift – eine parlamentarische Umsetzung der Herrschaftsverhältnisse der bestmöglichen Erfüllung staatlicher Funktionen für die bürgerliche = kapitalistische Produktionsweise. (S. 208)
Der zugleich mit dem Kapitalismus entstehende Nationalstaat (vgl. dazu meine Rezension zu Wallersteins „Siegeszug des Liberalismus“), welcher die Zersplitterung von Herrschaftsgebieten im Feudalismus beendete, war (und ist) so seinerseits die Voraussetzung dafür, dass das Kapital seine Herrschaftsgebiete verteidigen und oft auch ausweiten kann. Richtigerweise werden viele jetzt an das Militär denken – in normalen Zeiten sind aber eine gemeinsame Währung, ein einheitliches Rechtssystems, die vom Staat bereitgestellte Infrastruktur, welche das private Kapital nie finanzieren könnte, ein der feudalen Willkür entzogenes allgemeingültiges Steuersystem und die Sicherung des Privateigentums weitaus bedeutender. (S. 211-218)
Ohne diesen Nationalstaat gäbe es übrigens keine Staatsürger*innenschaft und die damit verbundenen Rechte, was die aktuelle Diskussion über die permanente Einschränkung von Flucht und Migration vollkommen verändern würde. Ebenso wie übrigens die Ungerechtigkeit, dass in vielen Städten bald die Hälfte der Einwohner*innen kein Wahlrecht haben, was einmal mehr zeigt, wie überkommen das Konzept des*r Staatsbürger*in längst ist.
Im bürgerlichen Staat sind scheinbar alle gleich, da dessen Hauptaufgabe die Verschleierung der tatsächlichen Machtverhältnisse und der real existierenden Ungleichheit ist. „Jedoch erfüllt die Staatsgewalt zusätzlich solche Funktionen für die sich herausbildende bürgerliche Gesellschaft, die zwar in der Rechtsform von Gesetzen auftreten, ihrem Inhalt nach aber offene Gewalt und eindeutige soziale Standeszuweisungen beinhalten, wie sie unvereinbar sind mit der bürgerlichen Rechtsauffassung“ schreibt die Autorin dazu auf S. 221.
Dieses für die Entstehung des bürgerlichen Staates geltende Postulat gilt wohl für den Kapitalismus in seiner ganzen Geschichte, wenn Stände durch Klassen ersetzt werden und die bürgerliche Rechtsauffassung um ein „formale“ oder „die Ideologie der“ ergänzt wird.
Auch wenn dieser Text bei weitem nicht an die tiefen Einsichten von Marx und Engels zur Rolle, Funktion und Aufgabe des bürgerlichen Staates heranreicht, so ist er doch eine lesenswerte Ergänzung, die deutlich macht, wie dringend notwendig es ist, uns wieder mit der konkreten Form des vorgeblich neutralen Staates im jeweiligen Gesellschafts- bzw. Herrschaftssystem auseinanderzusetzen, wenn wir nicht wollen, dass alles bleibt, wie es ist, diese Welt also tatsächlich grundsätzlich umgestalten wollen.
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